Ist es ein Klischee, zu sagen, dass ich von einer simplen Osterreise zurückgekehrt »ein anderer Mensch« bin?
Ein Klischee ist ein Gedanke, der wie ein zu lange gekauter Kaugummi durch zu häufige (und wohl auch gedankenlose) Anwendung seinen Geschmack, seine Kraft verloren hat.
Doch ich spreche mir hier Mut zum Klischee zu: Ein Klischee wurde so lange »durchgekaut«, weil es einst eine wahre und wichtige Botschaft transportierte.
Es ist eine Ironie – und ein Fehler: Eine wichtige Botschaft wiederholt zu hören, lässt uns für ihren Inhalt taub werden. (Die Religionen tun klug daran, uns durch Rituale dazu zu zwingen, alte Weisheiten wiederholt zu hören, auch wenn »man gerade keine Lust hat«.)
Nach einer simplen Reise »ein Anderer« zu sein, ist ein Klischee, ich weiß. Doch anders als ein Kaugummi lässt sich ein Klischee neu mit Kraft wecken. Was war denn der Gedanke, der dieses Klischee einst begründete?
Ich will es versuchen: Ein Mensch »ist« doch, wonach er strebt und was er daraufhin tut. Du bist nicht, was du isst. Du bist, was du tust. Das Leben ist die Summe unserer Handlungen. Wenn das, wonach ich strebe und was ich tue, anders ist, dann bin doch auch ich ein Anderer, oder nicht?
Zwei Handlungen haben sich seit meiner Rückkehr verändert – keine davon wirklich neu, aber eben doch anders.
Diese Essays sind so persönlich und damit tagebuchähnlich, wie es möglich ist, ohne gänzlich banal zu werden. Ich schreibe wenig über Politik. Auch, weil sich dies gemäß Niebuhrs Gelassenheitsgebet erübrigt hat.
(Nur so viel: In Deutschland hat der Verfassungsschutz, also die rechte Hand des nach meinem Eindruck stark parteipolitisch gefärbten Innenministeriums, heute die in Umfragen führende AfD für »gesichert rechtsextremistisch« erklärt (nius.de, 02.05.2025).
Damit kann die Opposition mit geheimdienstlichen Mitteln verfolgt werden. Erst fiel die letzte Scham in Deutschland, als man Andersdenkende regelmäßig als »Nazis« diffamierte. Nun endet auch der Versuch, die Illusion von Demokratie aufrechtzuerhalten. Flieht, solange ihr könnt – oder findet euch damit ab und richtet euch ein.)
Ich kann (und muss also) mich prüfen und ändern. Ja, dies ist mein Tagebuch.
Und ich arbeite mit Ernst am nächsten Buch. Diesmal kein extralanger latent philosophischer Essay wie Dazwischenwesen oder das Buch übers Loslassen. Auch keine Novelle wie der Herd der Herde.
Ich schreibe an einem (neuen) Roman. Im Geist wie Warteraum 254, aber um Jahre an Erfahrung reicher – und wohl auch sorgfältiger. Manche Gedanken – gerade die persönlichsten – bedürfen des ästhetisch Fiktiven mit dessen Abstand, um sag- und übertragbar zu sein.
Einige Gedanken dieses neuen Romans will ich hier mit und vor euch entwickeln.
Als Beispiel ein zu entwickelnder Gedanke aus meinem aktuellen Notizenstapel: »Du kennst die Einsamkeit in der Masse. In der Bahn etwa, in der Warteschlange – bei der Familienfeier. Diese Einsamkeit rührt daher, dass die anderen dir fremd sind. Doch was, wenn du selbst dir fremd bist? Ist das nicht die ärgste Art von Einsamkeit?«
Wer nach jenen Werten lebt, die uns vor Jahrzehnten beigebracht wurden, und die sich in weniger suizidalen Gesellschaftsformen eigentlich bewährten, der kann sich heute sehr einsam fühlen. Einsam, obwohl um einen her so viele Menschen sind, weil diese Menschen sich eben fremd anfühlen.
Und doch wäre jene Einsamkeit viel schmerzhafter, wenn ich mich selbst betrachten und erschrocken feststellen sollte, dass ich mir selbst ein Fremder geworden bin.
Kann ein Mensch sich selbst solche Zustände diagnostizieren, ohne darin »zum Klischee zu werden«?
»Oh, I don’t care!«, antwortet Melody im Film »Whatever works« auf solche Fragen, »if the shoe fits, wear it.« – Wenn der Schuh passt, trage ihn.
Und da fällt mir ein, dass ich in Rom meine Schuhe ordentlich durchgelaufen habe. Ich sollte mir später neue Schuhe kaufen. Für jetzt aber danke ich für eure Aufmerksamkeit.
Ihr seid mir wahrlich keinen Fremden (damit unterscheidet ihr euch bisweilen von mir selbst). Ihr seid Weggenossen.
Nein, ich muss mir nicht ein »Freund« sein. Doch zumindest kein Lügner, kein Feind, kein Fremder! (Freunde wählen regelmäßig das Schweigen statt nützlicher Ehrlichkeit, um die Freundschaft nicht zu gefährden. »Ich mag dich, doch ich mag dich nicht genug, um dir nützlich zu sein und dadurch die Freude am Umgang mit dir zu riskieren.«)
Lasst uns gemeinsam ehrlich sein.
Ehrlich zuerst ein jeder gegenüber sich selbst.