06.11.2017

Metaphysik der Angsträume

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Foto von Annie Spratt
Es gibt Angsträume? Nein, wirklich? Oh. Spannend! Ich heiße die Metaphysiker in der Realität willkommen – und bleibe doch vorsichtig.
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Der britische Philosoph George Edward Moore ( *1873, †1958) ist für einen auf den ersten Blick sonderbar banalen Gedanken bekannt:

Hier ist eine Hand, und hier ist noch eine. Also existiert eine externe Welt.

Man möchte diesen Gedanken schnell wegsortieren als weiteren Beleg für die Weltfremdheit der akademischen Klasse, doch hier läge man höchstens halb richtig.

Moore wendet sich in diesem fast schon frechen „Argument“ gegen den Skeptizismus seiner philosophierenden Kollegen.

Jene stellen Fragen wie: Woher weiß ich, dass diese Welt existiert und nicht alles nur Einbildung ist? Descartes ging so weit, zu fragen: Woher weiß ich, dass ich selbst existiere?

Moore verteidigt, buchstäblich, den „common sense“, den „gesunden Menschenverstand“. Seine Aufsätze zur Widerlegung des Skeptizismus wurden herausgegeben unter dem Titel: „A Defence of Common Sense“ (auf deutsch etwa: „Eine Verteidigung des gesunden Menschenverstandes“).

Moores Argumentation: Damit ein Schluss gültig ist, muss er a) Prämissen haben, die vom Schluss abweichen, b) die Prämissen müssen veranschaulicht werden („must be demonstrated“) und c) der Schluss muss sich aus den Prämissen ergeben. – Er sagt, dass sein Externe-Welt-Argument diese Voraussetzungen erfüllt.

Doch keine Hände?

Moores Argument ist nicht unangreifbar. Man könnte anzweifeln, dass der Begriff „Hand“ notwendigerweise „externe Welt“ einschließt. Es scheint, dass er seinen Schluss in die Prämisse mogelt, ohne diese selbst bewiesen zu haben.

Mit etwas Humor lässt sich Moores Argument direkt am gewählten Beispiel angreifen. Das Gehirn lässt sich mit recht einfachen Mitteln darin überlisten, was es meint, dass „seine“ Hand sei.

In diesem Video mit Paul Giamatti wird der Schauspieler mit Hilfe einfacher Tricks überzeugt, dass eine Gummihand „seine“ Hand sei – während er doch weiß, dass es nicht seine Hand ist. (Es gibt viele weitere unterhaltsame Videos zu diesem Thema auf YouTube!)

https://www.youtube.com/watch?v=DphlhmtGRqI

Wer trägt die Beweislast?

Wem soll man nun glauben? Dem, der sagt, er habe eine Hand? Oder dem, der sagt, es sei nur seine Einbildung?

Es endet selten gut, wenn der Mensch hochtrabende Überlegungen verwechselt mit dem, was er braucht, um zu überleben.

Auch ein Philosoph, der anzweifelt, ob Geld einen Wert hat und ob die Realität wirklich „real“ sei, wird darauf bestehen, in der Bäckerei das korrekte Wechselgeld herausgegeben zu bekommen.

Ich weiß, dass ich nicht joggen gehe

Wäre es nicht so schrecklich, wäre es fast amüsant, wie sich dieser Tage in „Qualitätsmedien“ immer häufiger „Mutige“ zu Wort melden, und in schüchternen Sätzlein das Äquivalent zu „Ich habe eine Hand“ zu sagen wagen.

In Köln erklärt eine Karnevalistin namens Andrea Schönenborn:

Angsträume. Was für ein Wort in einer Stadt wie Köln. Bunt, tolerant, hilfsbereit – sind das nicht eigentlich die Synonyme, mit denen unsere Heimatstadt sonst in aller Welt in Verbindung gebracht wird? Lange wollte ich diesen Begriff eigentlich nicht gelten lassen für mein Köln. Insbesondere als Frau. Umso schwerer fällt mir aber, dass ich mittlerweile zugeben muss: Ja, es gibt Angsträume in Köln. Die Erlebnisse rund um den Ebertplatz und an Halloween haben nur noch einmal verdeutlicht: Wir müssen jetzt etwas tun gegen diese Zustände.“
express.de, 4.11.2017

Fassen wir doch zusammen, was sie sagt: Sie wollte es „nicht gelten lassen“, jetzt muss sie es aber doch „zugeben“. Man könnte auch flapsig anmerken: Gutmensch, willkommen in der Realität!

Ein jedes hat seine Zeit

Metaphysik hat ihre Zeit und Common Sense hat seine Zeit. Ich nehme zur Kenntnis, dass selbst Haltungsmedien sich immer häufiger genötigt sehen, zu sagen, was ist.

Ich rate zur Vorsicht: Sie sagen jetzt, was sie sagen müssen, um den Niedergang ihrer Glaubwürdigkeit ein wenig zu bremsen. Die Ideologie steckt noch immer in den Köpfen. Die politiknahen Strippenzieher sitzen noch immer in den Räten und Redaktionen. Sie lassen jetzt etwas Dampf aus dem Ventil, um Druck vom Kessel öffentlicher Meinung zu lassen. Sie werden das Ventil wieder zudrehen, spätestens im nächsten Wahlkampf.

Ich halte mich auch heute lieber an jene kleinen, freien Medien, die seit Jahren schon sagen: „Ich weiß, dass ich eine Hand habe.“

Manchen Menschen ist es ein innerer Drang, zu sagen, was ist. Sie sind das Gegenmodell zu den Verdrängern und Beschwichtigern, die uns weismachen wollen, nur ein „Experte“ könne sagen, ob eine Hand auch eine Hand sei, ob ein islamistischer Terroranschlag nicht vielleicht doch ein „LKW-Vorfall“ ist.

Mein Sohn verweigert Brokkoli. Er wird es nicht essen, und wenn sie ihm androhen für den Rest des Tages das Lego wegzunehmen. Andere Menschen weigern sich, Rechtsbeugung und Demokratiekrise zu schlucken. Sie werden beschimpft, boykottiert, denunziert und bedroht. Ich will mich an genau diese Leute halten. Sie haben sich über die Jahre als die verlässlicheren Gefährten erwiesen.

Weiterschreiben, Dushan!

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