05.11.2024

Ich werde bescheiden

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten
In unserer Seele sind wir noch halbe Affen. Wir sind Höhlenmenschen mit Werkzeugen wie aus Science-Fiction-Phantasien. Und doch bleiben es eben Werkzeuge, und es liegt an uns, ob sie uns kaputtmachen oder endlich klug werden lassen.

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen
Telegram
Facebook
𝕏 (Twitter)
WhatsApp

Die Welt wäre eine so viel bessere, wenn wir bescheiden wären! Friedlich wäre die Welt! Klug … und gut … und weise. (Letztes Jahr rief ich euch zu: »Seid bescheiden, so wie ich!« – Wie seid ihr damit vorangekommen?)

»Du sollst Geld verdienen«, so sagt dir dein Bankkonto. (Dasselbe Bankkonto könnte dich auch zur Bescheidenheit mahnen, doch das ist natürlich eine andere Bescheidenheit als die hier gemeinte.)

Der Autor dieser Zeilen, ein Mensch, hat jüngst einen Text auf sehr menschliche Weise geschrieben, ihn dann aber von einem Roboter vorlesen lassen.

(Der derart vertonte Text trug den Titel »Ein Toaster, eine Badewanne und die Nachricht des Tages«.)

Dieser Autor hat – mit Unterstützung einer Künstlichen Intelligenz – eine Software geschrieben, die Essays halb-automatisch in vertonte Videos verwandelt.

Und wie zu erwarten, beschwerten sich einige von uns: Man wolle ein Gesicht sehen! – Ich verstehe das natürlich.

Wir vertrauen eher, wenn wir ein Gesicht sehen.

Das Gesicht muss nicht schön sein, also symmetrisch und mit glattester Haut. Das Gesicht muss vertrauenswürdig sein. Wir müssen vertrauen können.

Damit verdienen die Propagandisten des Staatsfunks übrigens ihre Gehälter! Nachrichtensprecher, Moderatoren und andere TV-Promis kassieren ihr Supergehalt dafür, dass »man ihnen glaubt« … wie groß und absurd die verkündeten Lügen auch sein mögen.

Es ist ein Problem, ein seelischer Atavismus. Wer ein Argument eher glaubt, wenn er ein Gesicht zum Gesprochenen sieht, ist darin dem Höhlenmenschen näher als der Aufklärung.

Und das ist die Rechtfertigung, warum ich mir als YouTube-Gesicht wieder »kündigen« will.

Ich, Dushan Wegner, der Autor dieser Zeilen, will einen Roboter vorlesen lassen. Nach Regeln, bei deren Erstellung mir ein anderer Roboter half.

Ihr sollt den Wert und Gehalt der Worte bedenken, wer oder was auch immer diese Worte vorliest.

Von Franz Kafka wird berichtet, dass er seine Texte im kleinen Kreis von einem besonders eintönigen Vorleser vortragen ließ. Kafkas Publikum sollte seine Texte aufgrund ihrer Worte selbst bewerten, nicht aufgrund eines charismatischen Vortrags.

Roboterstimmen sind heute nicht (mehr) eintönig. Tatsächlich liest mancher Roboter klarer und unaufdringlicher vor als ich, das ist kaum zu leugnen. Die Trennung von Autor, Text und Publikum erreichen Roboter dennoch – gerade dann, wenn wir von ihrem Einsatz wissen.

Diese Trennung wird verständlicherweise vereinzelt als »unpersönlich« wahrgenommen. Paradoxerweise kann auch aber das Gegenteil der Fall sein.

Anders als ich hat ein Roboter unendliche Kraft und Geduld.

Das heißt in der Praxis: Wenn ich selbst ein Video aufnehme, kann es sein, dass ich in einer Passage etwas sage, wovon ich später feststelle, dass ich es »nicht ganz so meinte« – doch für eine neue Aufnahme fehlen Zeit und Energie.

Ein Roboter aber wird zehn-, hundert- und tausendmal neu aufnehmen, ohne müde zu werden (solange ich jeweils die Gebühr für die Nutzung der Schnittstelle bezahle). Und so kann ein vom Roboter vorgetragener Text näher dem kommen, was ich wirklich sagen will.

Ja, die praktischen Vorteile des Einsatzes von Robotern können paradoxerweise einen Text persönlicher und echter werden lassen.

Doch die philosophische Rechtfertigung für den Einsatz von Roboterstimmen hat mit Aufklärung zu tun – und damit, dass ich »mir kündige«.

Aufklärung ist bekanntlich der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.

Diese Mündigkeit aber muss doch bedeuten, einen Text aufgrund seiner Inhalte zu bewerten. Den Text nur als Leiter hinauf (oder hinab …) zu einer Wahrheit zu nutzen, vollständig unabhängig vom Sprecher.

In unserer Seele sind wir Menschen doch noch halbe Affen. Wir sind Höhlenmenschen mit Werkzeugen wie aus Science-Fiction-Phantasien. Und doch bleiben es eben Werkzeuge, und es liegt an uns, ob sie uns kaputtmachen oder endlich klug werden lassen.

Ich will die neuesten Werkzeuge als ebensolche nutzen. Als Werkzeug, das Äffische täglich weiter zurückzulassen. Bescheiden zu werden vor der mir selbst gestellten Aufgabe.

Die Leiter aber, frei nach Wittgenstein, sollst du zurücklassen, wenn sie ihren Zweck erfüllte.

Ich arbeite an meiner Bescheidenheit, und ich will also noch mehr Leitern zurücklassen.

Das bedeutet, dass ich an Worten und Wahrheiten arbeiten will, die gänzlich unabhängig von mir und meinem Gesicht sind.

Roboter sollen mir helfen, den täglichen Zwischenstand meiner Denkarbeit mit euch zu teilen.

Was wahr ist, muss wahr sein, ob Götter, Menschen oder Roboter es verkünden. Diese Wahrheit aber gilt es zu suchen. Die Wahrheit, wie wir sie aussprechen können, ist der jeweils am wenigsten peinliche Irrtum.

Sucht Wahrheit! Sucht das, was weniger falsch ist – gleichgültig wer oder was es sagt.

Oder, kurz: Werdet bescheiden!

 

Weiterschreiben, Wegner!

Danke fürs Lesen! Bitte bedenken Sie: Diese Texte (inzwischen 2,228 Essays) und Angebote wie Freie Denker und meine Videos sind nur mit Ihrer regelmäßigen Unterstützung möglich.

Jahresbeitrag(entspricht 1€ pro Woche) 52€

Und was meinen Sie?

Besprechen Sie diesen Text mit mir und vielen weiteren Lesern in den Kommentaren auf YouTube – ich freue mich, Ihre Meinung zu erfahren!

Zufälliger Essay

Auf /liste/ finden Sie alle bisherigen Essays – oder klicken Sie hier, um einen zufälligen Essay zu lesen.

E-Mail-Abo

Erfahren Sie gratis, wenn es ein neues Video und/oder einen neuen Essay gibt – klicke hier für E–Mail-Abo.

Mit Freunden teilen

Telegram
Reddit
Facebook
WhatsApp
𝕏 (Twitter)
E-Mail

Darf ich Ihnen mailen, wenn es einen neuen Text hier gibt?
(Via Mailchimp, gratis und jederzeit mit 1 Klick abbestellbar – probieren Sie es einfach aus!)