Kannst du Fahrrad fahren? Wahrscheinlich ja. Du hast das Fahrradfahren gewiss schon als Kind gelernt.
Erst hattest du Stützräder, dann wurden dir diese zu doof. Stützräder blockieren die Kurvenlage und rattern viel zu laut.
Also hast du die Stützräder abmontieren lassen. Du sprangst auf dein nun »erwachsenes« Fahrrad auf, versuchtest es ohne die Stützräder – das war dann doch etwas angsteinflößend.
Also schob ein großer Mensch dich an und lief bei deinen ersten stützradlosen Metern mit.
Du lerntest es, du brauchtest bald den großen Menschen nicht mehr an deiner Seite. Du würdest nie wieder Stützräder brauchen, denn nun konntest du Fahrrad fahren. Und du kannst es bis heute.
Lass mich dich aber mit einer Frage ärgern: Kannst du mir erklären, wie Fahrradfahren funktioniert?
Ich meine nicht, dass du es mir zeigst. Ich meine, kannst du mir die physikalischen Regeln darlegen?
Was ist die Ursache dafür, dass ein Radfahrer nicht umkippt, solange er nur fährt?
A wie Abraham, Z wie Zarathustra
Ich will an dieser Stelle gern zugeben, dass es mir mit dem Leben spiegelbildlich zum Radfahren geht.
Das Radfahren beherrsche ich, verstehe aber die dahinterstehenden physikalischen und sonstigen Gesetzmäßigkeiten kaum.
Bezüglich des Leben aber kenne ich die geschriebenen Gesetze, die alten Weisheits sehr wohl. Ich habe sie studiert, von A wie Abraham über B wie Buddha und C wie Camus bis Z wie Zarathustra – den Zarathustra des Zoroastrismus wie auch den des Nietzsche.
Doch wie gründlich ich die Gesetze des guten und gelungenen Lebens auch studiert zu haben meine: Ich falle im Leben immer wieder auf die Nase.
Ich fahre Schlangenlinien und schramme gegen die Bordsteinkanten des Alltags. Ich krache in die Hauswände der Realität. Ich küsse unfreiwillig den Asphalt und schlage mir die Stirn auf.
Kurzzeitiges Gegenlenken
Ich habe mich inzwischen schlau gemacht, bezüglich des Radfahrens: Es sind gleich drei Effekte, die ineinandergreifen, um den fahrenden Radfahrer auf dem Rad zu halten.
Da wären einmal das Trägheitsgesetz und die gyroskopischen Effekte. Ein rotierendes Rad besitzt Drehimpuls, es hält sich selbst stabil.
Ein weiterer stabilisierender Faktor ist das schnelle, kurzzeitige Gegenlenken des Radfahrers.
Wenn der geübte Radfahrer spürt, dass er nach links kippen könnte, lenkt er instinktiv das Rad ebenfalls kurz nach links, das Rad wird wieder stabil und der Radfahrer kann das Rad wieder geradeaus und in die beabsichtigte Richtung lenken.
Der entscheidende Faktor für Stabilität des Radfahrers ist allerdings die Geometrie des Rades, der »Trail«. Das Vorderrad ist so aufgehängt, dass es etwas weiter hinten liegt, als die Lenkachse vermuten ließe. Das führt dazu, dass die bloße Vorwärtsbewegung das Fahrrad immer wieder stabilisiert.
Ein nach den bewährten Regeln und alten Erfahrungen der Radfahrkunst und der Fahrradbaukunst gebautes Fahrrad wird sich immer wieder selbst aufrichten – solange der Radfahrer nur in Bewegung bleibt.
Wenn notwendig, dann unbedingt
Ach, ich überlasse es euch – ich gebe es euch zur Aufgabe! –, die Lehren aus den wahren Gesetzen des Radfahrens zu ziehen. (Schreibt eure Deutung in die YouTube-Kommentare!)
Man möchte ja sagen, dass es sich – ob im Leben oder auf dem Fahrrad – empfiehlt, in Bewegung zu bleiben, sich an die Regeln zu halten und ansonsten dem System zu vertrauen.
Beim und auf dem Fahrrad ist das auch weiterhin so. Beim und im Leben aber kommen mir da immer mehr Zweifel.
Kann ich wirklich »dem System« vertrauen, solange ich mich an die Regeln halte? Ist das System derart aufgestellt, dass solange ich mich an die Regeln halte und in Bewegung bleibe, ich nicht auf die Nase fallen werde?
Vermutlich hängt die Antwort davon ab, welches System ich meine. Und welches Ziel ich mit meiner Strampelei erreichen will.
Wenn notwendig, dann unbedingt
Kannst du Fahrrad fahren? Ja, bestimmt. Und jetzt kannst du vielleicht auch etwas besser erklären, wie dieses Radfahren funktioniert.
Kannst du aber dein Leben leben? Und wie gut bist du darin?
Du gibst bestimmt dein Bestes. Anders als beim Radfahren aber bleibt man bezüglich des Lebens ein Leben lang Anfänger.
Und so wäre es für dich und mich ratsam, einander ein Leben lang der stabilisierende »große Mensch« zu sein. Nicht immer, nicht aufdringlich.
Aber wenn notwendig, dann unbedingt.
Die Bordsteinkanten des Lebens sind halt schmerzhaft scharf.