25.05.2020

Danke für das Gespräch!

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Foto von Azin Javadzadeh
In Deutschland tummeln sich mal eben 100 IS-Fanatiker mit Kampferfahrung, so erfahren wir nebenbei. Warum fühlen die sich eigentlich in Deutschland wohl? Und warum spricht (fast) keiner darüber?!
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Was haben superscharfes indisches Vindaloo, ein Neugeborenes mit Bauchweh und jenes ganz erheblich peinliche Gespräch damals mit der/dem hübschen Schulkollegin/en gemeinsam? – Die Antwort ist natürlich: Alle drei können uns schlaflose Nächte bescheren! Das scharf marinierte Fleisch bereitet uns hoffentlich nur eine schlaflose Nacht. Das Neugeborene hält uns ein paar läppische Jahre wach.

Ein peinliches Gespräch, sei es mit der/dem mehr-oder-weniger heimlichen Schwarm, mit dem Lehrer (was trotz aller Warnungen ja dieselbe Person sein kann) oder natürlich mit dem Boss, all dies kann uns noch Jahre und Jahrzehnte wach halten, und uns fragen lassen: Was hatte uns bloß geritten, so etwas Peinliches zu sagen?! Noch Jahre später liegen wir wach und unser inneres Fernsehen spielt uns die schamtreibenden Szenen vor!

Einigen Menschen fehlt das »Peinlichkeits-Gen«, und das ist eine ganz eigene Kategorie, der Rest von uns aber geht potentieller Selbstentblößung aus dem Weg – und wenn es doch geschah, dann wollen wir es wirklich, wirklich gern vergessen.

Die Spezmaz

Natürlich sind es nicht nur wir Normalschlaflosen, die sich in schlafraubend peinliche Situationen begeben – auch Politiker stolpern bei Gelegenheit über ihre Worte, und das besonders dann, wenn sie das Gefühl vermitteln, nicht nur daneben zu liegen, sondern zudem auch noch nicht zu wissen, wovon sie reden.

Wir erinnern uns etwa an einen jungen Arzt, der sich in die Politik verlaufen hatte, und dann im TV durch Zustimmung zu einem Froschkochvergleich sich selbst ins viel-zu-heiße Wasser setzte (26.2.2012). Sein Nachfolger, viele Jahre später, setzte sich selbst in die Urticaceen etwa als er ausführte, dass Otto Normalbackwarenkäufer doch gern wüsste, ob der Dunkelhäutige vor ihm in der Schlange beim Bäcker sich legal oder illegal im Land befinde (nzz.ch, 13.5.2018).

Nun, ich werde von Linken, vor allem aus dem Staatsfunk-Publikum, oft genug daran erinnert, dass ich Ausländer bin und einen fremdländischen Namen habe (was Linke halt so für Argumenten halten), doch auch und gerade als Außengeländer bin ich halb amüsiert über die Aggressivität der deutschen »Spezialeinheiten des moralisch Akzeptablen« (abgekürzt »Spezmaz«, nicht zu verwechseln mit den im Vergleich mit merklich mehr Skrupeln behafteten »Speznas«). Wehe dem, der in ihr Visier gelangt! Eher kannst du von den Folterknechten der Stasi oder im sibirischen Gulag etwas Gnade erhoffen, als bei den Kolumnisten in den Redaktionen der Machtnahen.

Doch, nicht nur die unbekannten Unbekannten, die ungeprüft im Land der unbegrenzten Unterkunft unterkommen, sind nicht unbedingt nur immer unproblematisch.

Wir lesen heute eine kleine Meldung, eine Randnotiz, ein alltägliches »Wir schaffen das« im Sturm der Zeit:

Mehr als Hundert IS-Rückkehrer in Deutschland haben nach Angaben des Bundesinnenministeriums Kampferfahrung oder haben sich auf Kämpfe vorbereitet. (welt.de, 25.5.2020)

Auf Deutsch: In Deutschland lebt eine Szene, die sich dem einen Ziel verschrieben hat, Andersdenkende zu töten – und über hundert davon wissen ganz konkret, wie das geht. (Sind Antifa und der »Islamische Staat« nicht geistige Verwandte? Beide sind bereit, Gewalt anzuwenden gegen den, der nicht ihre primitive Weltsicht teilt.)

Viel, viel, viel

Können wir bitte darüber reden? Sicher, es ist unangenehm, und es ist peinlich im Wortsinn – doch wäre es nicht im Nachhinein noch peinlicher, nicht darüber zu reden?

Ja, ich bin amüsiert über all dieses Herumtänzeln. Wir reden doch längst viel, viel, viel mehr darüber, ob, wie, und wie deutlich wir über Probleme reden dürfen, als dass wir die Probleme selbst bereden.

Hundert wunderbare junge Menschen, die hin und her reisen, und die ein klein wenig »Kampferfahrung« haben. Die eigentliche Frage ist doch: Warum ist es ausgerechnet Deutschland, wohin sich diese netten Zeitgenossen vor und nach getaner Arbeit zurückziehen? Letztens setzten sich noch deutsche Politiker dafür ein, IS-Schergen zurück nach Deutschland zu holen (siehe auch »Es gilt, am Irrsinn nicht irre zu werden«) – ein Zyniker könnte fragen, ob die aktuelle Meldung als politischer »Erfolg« gefeiert werden kann.

Vor verschlossener Tür tanzend

Jahre und Jahrzehnte nach unseren Peinlichkeiten lernen wir schließlich (hoffentlich!), uns selbst zu verzeihen. Manche sagen, es sei ein Zeichen von Weisheit, seinen Mitmenschen ihre Schwächen zu verzeihen. Andere sagen – und jene Denkschule gefällt mir besonders gut, das wahre Zeichen wohlgereifter Weisheit sei es erst, dass wir uns unsere eigenen Fehler verzeihen.

Doch, all diese Weisheit im Nachhinein, dieser Fernblick im Rückspiegel, so edel sie uns scheinen, wäre es nicht weit nützlicher, die peinlichen Einsichten von später schon heute aus dem Weg zu räumen?

Wir tanzen um die anstehenden Fragen wie einer, der mit voller Blase vor der verschlossenen Toilettentür herumhüpft.

Welche Dankbarkeit spürt man doch heute, wenn man mit einem Menschen unbeobachtet ein ehrliches Gespräch führen kann! Wenn man einmal sagen kann, was man wirklich sagen will, was einem wirklich auf der Seele brennt, dann will man sich ja förmlich bedanken. Doch viel häufiger, im Gespräch mit Kollegen, Journalisten und zu oft auch Familienmitgliedern (siehe auch »Hast du deinem Verräter die Windeln gewechselt?«), viel häufiger schweigt man dieser Tage, und man tauscht vermeintlich ungefährliche Floskeln aus – was soll man denn auch noch sagen, wenn da ISIS-Kämpfer in Deutschland umherlaufen? Man wechselt gestempelte Satzstücke, und man ist nachher so übervoll und doch so leer wie vorher, und hinterher möchte man die Augen rollen und sarkastisch murmeln: »Danke für das Gespräch!« (Ja, es gibt ein T-Shirt mit »Danke für das Gespräch« drauf – inklusive Augenrollen.)

Minimenschlein und scharfe Fleischspeisen

Scharfes Essen kann uns die halbe Nacht lang wach halten und sogar am nächsten Tag noch brennen. Ein Neugeborenes kann ein paar Jahre lang herumschreien, doch dann kommt die niedliche Zeit, dann die Pubertät, und dann wären wir bald froh, wenn die Kinder überhaupt eine Nacht unter unserem Dach verbringen.

Auch das Gesagte, das so peinlich war, kann uns manche Nacht wach halten, noch viele Jahre später.

Weit schlafraubender aber als alle scharfen Fleischspeisen, schreiende Minimenschlein oder ungeschickte Peinlichkeiten sind, noch Jahre, Jahrzehnte und wohl auch Jahrhunderte später, die Dinge, über die wir nicht gesprochen haben, über die wir hätten sprechen müssen.

Warum zum Kuckuck ist Deutschland ein Heimathafen für ISIS-Kämpfer?! Wir sollten drüber sprechen – ich sage, schon jetzt: Danke für das Gespräch!

Weiterschreiben, Dushan!

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