Du bist so eitel«, singt Carly Simon (»You’re so vain«), »wahrscheinlich denkst du, dieses Lied handle von dir.«
Auf den ersten Blick ist das Lied von 1971 eine Abrechnung mit einem allzu eitlen Typ, garniert mit einem neckischen Paradoxon. Einige Männer standen im Verdacht, der Besungene zu sein, darunter David Bowie und Mick Jagger. – Warren Beatty dachte sogar selbst, der ganze Song drehe sich um ihn, doch inzwischen hat die Sängerin verraten, zwar beziehe sich das Lied tatsächlich auf ihn (people.com, 18.11.2015), allerdings nur die zweite Strophe! (»Oh, du hattest mich vor einigen Jahren, als ich noch naiv war…«)
Es ist ein Lied aus einer farbenfroheren Zeit, als Freude noch Freude war, und Hoffnung noch Hoffnung – und schon damals waren die eitlen Gecken eben das!
News
Wer heute eitel ist, der macht Selfies, also Fotos seiner selbst, oft mit dem Smartphone mit ausgetreckter Hand geschossen.
»Schaut mich an!«, ruft der Selfieschießer, »labt euch an meiner Aura!«
In Russland kann man Luxus-Privatflugzeuge mieten, in denen man sich für Selfies inszeniert, während das Flugzeug am Boden steht (nymag.com, 20.10.2017) – und bei Gelegenheit ist das Flugzeug-Interieur einfach nur nachgebaute Kulisse (thesun.co.uk, 19.11.2018, wobei dieser Fake zumindest ein pfiffiges Kunstprojekt ist).
Fake-Flugzeuge sind noch charmant, in anderen Situationen ist es geradezu gefährlich, was manche Menschen alles anrichten auf der Jagd nach dem nächsten tollen Selfie.
Konservative in der CDU haben die berühmteste deutsche Selfie-Prominente aufgefordert, endlich ihr Amt als Kanzlerin aufzugeben und zurückzutreten (siehe etwa spiegel.de, 11.3.2019). – Oder, deutlicher: Frau Merkel, das Ende der Selfiestange ist erreicht!
Die SPD hat zwar angekündigt, Kramp-Karrenbauer nicht automatisch als Kanzlerin zu tragen, doch wir wissen, wie viel das Wort der Sozialdemokraten gilt (Groko, VDS, usw.) – würden Heiko, Manuela und all die anderen Großintellektuellen wirklich auf die vielen tollen Selfie-Gelegenheiten als Minister verzichten?
Krieg der Selfies
Wer heute wahlkämpft, der muss Selfies schießen. Wie sonst sollten wir sehen, wie gut drauf er ist und was für tolle Leute er trifft? Wir sollen alle dabei sein wollen!
Im bundesdeutschen Wahlkampf 2017 galt es für Christian Lindner, die FDP wieder in den Bundestag zu führen, also schoss er Selfies. Ein Selfie schoss er mit Joachim Steinhöfel, dem Rechtsanwalt, der heute bekannt ist für seinen Einsatz für Grundrechte wie Meinungsfreiheit. Das schmeckte natürlich manchem Haltungsjournalisten nicht: »Da freut sich @c_lindner aber, dass er rechts neben dem Pirinçci- und Matussek-Anwalt Joachim Steinhöfel steht (…)« (@der_rosenkranz, 8.9.2017/archiviert) – kann mal jemand dem Haltungsjournalisten einige grundlegende Prinzipien des Rechtsstaats erklären?
Wo es gegen die Grundlagen der Demokratie geht, da tritt natürlich die SPD schnell mit. Hubertus Heil (ja, der heißt so), inzwischen SPD-Minister (wissen Sie aus dem Stegreif, wofür?), stimmte ein: »Es ist sehr bedenklich, wie @c_lindner sich derzeit an den rechten Rand ankuschelt. Liberal ist das nicht.« (@hubertus_heil, 8.9.2017/archiviert) – Und so fort, sehr viel Aufregung, und alles nur wegen eines Selfies.
Die FDP ist eine besondere Partei. Eine stehengebliebene Uhr, so sagt man, zeigt zumindest zweimal pro Tag die richtige Uhrzeit an. Die FDP aber ist wie eine magische, multidimensionale Uhr, die alle Uhrzeiten gleichzeitig anzeigt. – Oder, mit einer rustikaleren Metapher: Die FDP pinkelt forsch in den Wind, auf dass es ihr genauso gelb wieder entgegenkommt, woraufhin sie dann schnell das Mäntelchen zum Trocknen in den Wind hängt. Ich finde – und dass meine ich im FDP-Stil zugleich sarkastisch und ernst – ich finde, dass der Facettenreichtum der FDP-Positionen in diesen Zeiten, in denen alle alles ernst meinen, einen gewissen Charme besitzt. Schrödingers Katze, inoffizielles Wappentier der FDP.
Zu den zweifellos klugen Aussagen der FDP gehörte zuletzt Lindners Kritik am Öko-Kinderkreuzzug.
Der Tagesspiegel zitiert Bild, die Lindner zitiert (Bezahlschranken ändern auch unsere Zitatgewohnheiten):
»“Von Kindern und Jugendlichen kann man nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen“, sagte Lindner der „Bild am Sonntag“ und fügte hinzu: „Das ist eine Sache für Profis.“« (tagesspiegel.de, 10.3.2019)
Die einen Kinder gehen demonstrieren, schießen eitle Selfies und finden sich ganz doll moralisch – die anderen Kinder gehen lernen. Die einen werden um Jobs bei irgendwelchen Berliner Propaganda-Klitschen betteln, die anderen werden mit ihrem Wissen die Zukunft gestalten. Aber erklär das mal der Generation Selfie, die erst zur Umwelt-Demo geht (und, wie Fotos in den Sozialen Medien belegen), danach erstmal zu McDonalds, um sich nach dem Schuleschwänzen fürs Party-Wochenende zu stärken.
Die Sozialen Medien sind reich an Selfies von den Demos, doch ich will keine Kinderfotos verlinken. Selfiekrieger gegen Selfiekrieger, und wie in jedem eskalierenden Zwist sind es selten die Soldaten, die dabei reich werden – jüngst wurden übrigens einige Fotos von Mark Zuckerbergs (Facebook) Hawaii-Anwesen veröffentlicht – wow (gizmodo.com, 9.3.2019).
Schaut! Mich! An!
Ein Selfie ist kein Spiegel. Man schaut sich nicht an – man zeigt sich. Man reflektiert sich nicht, man projiziert sich in das Bewusstsein der Opfer.
Die Kunst des Selfies ist die Kunst, Menschen wieder und wieder auszutricksen, sich als Publikum zur Verfügung zu stellen.
Das einfachste Selfie ist jenes, das man mit der Smartphone-Kamera schießt, um es dann auf den »Klowänden des Internets« (von Matt, 2006) auszustellen, auf dass es ein jeder sehen muss.
Doch, um die Intention eines Selfies zu erfüllen braucht es nicht unbedingt eine mobile Fotokamera!
Beim Trauergottesdienst um eine (weitere) von einem »jungen Mann« getötete junge Frau, stellte sich ein 29-Jähriger in den Altarraum und rief in einer Fremdsprache »Gott ist groß«. Die Menschen verließen die Kirche »fluchtartig« (welt.de, 10.3.2019).
Das aggressive Ausrufen seines Glaubensbekenntnisses ist auch ein psychologisches Machtspiel. Beim Social-Media-Selfie wird der andere noch mit Tricks und Mitteln wie Popularität und Ästhetik dazu gebracht, sich als Publikum zur Verfügung zu stellen, der ungebetene Glaubensbekenntnis-Rufer erzwingt sich sein Publikum – der Geist ist aber ähnlich: Hier bin ich, schaut mich an! Auf gewisse Weise ist die mutmaßliche Religion des jungen Herrn überraschend kompatibel zum Selfie-Zeitalter.
Roar!
Ja, die Sucht nach einem schicken Selfie kann Menschen sogar in Lebensgefahr bringen!
Aus Arizona (USA) wird aktuell von einer Dame berichtet, die fürs gelungene Zoo-Selfie über die erste Absperrung eines Raubkatzen-Geheges stieg (dailymail.co.uk, 10.3.2019 – Vorsicht: Artikel enthält auch Video von der Dame danach, »nur« mit Armwunde, aber in Schmerzen – »Generation Selfie« in letzter, absurder Konsequenz).
Der Jaguar schwang mit seiner Tatze nach ihr und verwundete ihren Arm. (Der Zoodirektor betonte, dass das Tier nicht eingeschläfert wird – warum sollte es?)
Man schüttelt mit dem Kopf, und heimlich denkt man sich: Selbst Schuld – und zum Glück ist niemand gestorben! – Bei anderen Selfie-Begeisterten ging es nicht ganz so glimpflich aus.
Reprise
Wenn Sie meine Texte mögen (und mein Denken verstehen möchten), dann werden Sie Relevante Strukturen gelesen haben – und Sie werden jenes Motto kennen: Zeige mir deine relevanten Strukturen, und ich sage dir, wer du bist.
Was ist dir wichtig, fühlt sich der Selfie-Fan gefragt, und er antwortet der Welt, ob sie es hören will oder nicht: Ich, ich, ich – im besten Fall vor wechselnder Kulisse (nicht immer echt, siehe Fake-Jets), manchmal weichgezeichnet und oft mit Filter.
Zeige mir deine relevanten Strukturen, und ich sage dir, wer du bist. Der Selfie-Junkie zeigt der Welt, was ihm wichtig ist: Er selbst.
Der Selfie-Junkie ist wie ein Spiegel, der sich selbst reflektiert – unendlich Tiefe, doch was ist in ihr? – Die Generation Selfie, in der Politik wie auch in den Schulen, lernt, dass zuerst das »Zeichen« zählt, der Fotobeweis moralischer oder sonstwie lustvoller Umstände.
Wer seine Selbstdefinition aus dem Wahrgenommenwerden nimmt, der wird das Minimum tun, um eben die Aufmerksamkeit zu bekommen. Den Selfie-Politiker stört es nicht, wenn er heute das eine und morgen das Gegenteil fordert, solange bei beidem ein hübsches Selfie rausspringt.
Der Eitle degradiert das Publikum zum austauschbaren Material, zu Follower-Zahlen. Die Selfie-Politik degradiert die Bürger, die das Land aufbauten, denen es nach alter Redeweise gehört, zu denen »die schon länger hier leben«, austauschbare Wählermassen in der Koalitionsbildung.
»But you gave away the things you loved«, heißt es im Song »You’re so vain«.
Es gibt wenig Tragischeres, als am Ende eines Lebens festzustellen, dass man jenes, was einem teuer und wichtig war, leichtfertig dahingab, nur um Eitelkeiten nachzujagen.
Was ist dir wichtig? Oder, einmal anders gefragt: Was zeigen deine letzten hundert Fotos?