Dushan-Wegner

31.10.2021

Das Unglück der Anderen

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten
Grundsätzliche Frage: Ist es gestattet, sich darüber zu freuen, dass es Anderen schlechter geht als einem selbst? Ein klein wenig nur?
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Wenn ich »1984« sage, dann denken Sie vielleicht an das Buch – es wäre verständlich – doch ich rede hier zuerst vom Jahr!

1984, da war Helmut Kohl unser Bundeskanzler, und Apple brachte den Macintosh heraus. Damals versprach Apple noch, dass dank ihrer Computer »1984 weniger wie 1984 werden würde« – und sie sprachen vom Jahr. – Heute will Apple unsere iPhones nach verbotenen Bildern durchsuchen (siehe dazu auch den Essay »Die Behörde in deinem iPhone« vom 11.08.2021). 1984 wurde der Welt aber auch »Band Aid« geschenkt.

»Band Aid«, das bedeutet »Pflaster«, es kann – und soll hier – aber auch bedeuten, dass Bands zur Hilfe eilen. Es ging um Hilfe für Äthiopien (damals half man noch vor Ort), wo damals aufgrund von Dürre eine Hungersnot das Leben der Menschen bedrohte.

Prominente sangen für Afrika, natürlich nur aus Nächstenliebe, und bestimmt nicht um sich zu präsentieren, um ihren Marktwert zu vervielfachen und medial-politische Macht zu ergattern.

Eine problematische Zeile

Das Lied, das sie zu Weihnachten 1984 weltweit in die Charts brachten, trug den herzergreifenden Titel: »Do They Know It’s Christmas?« (siehe YouTube)

Bono singt: »Well, tonight thank God it’s them instead of you« – zu Deutsch etwa: »Nun, heute Nacht danke Gott, dass es die sind anstatt deiner«.

Später wurde die Zeile herausgeschnitten und ersetzt: »Tonight we’re reaching out and touching you«, zu Deutsch etwa: »Heute Nacht strecken wir den Arm aus und berühren dich«. – Ich überlasse es Ihrer Interpretation und Einschätzung, ob das besser ist.

Darf es ein Grund zur Freude sein, dass es anderen Menschen schlechter geht? Die Zeile von Bono wurde von seinen Fans als sarkastisch verteidigt, als ironisch uns einen Spiegel vorhaltend, doch dafür ist sie zu realistisch, dafür können wir uns zu gut vorstellen, dass Menschen das genau so empfinden.

Es erinnert mich an gewisse bewährte Redensarten im Deutschen!

Etwa: »Schlimmer geht’s immer.«

Und: »Rechne mit dem Schlimmsten, freu dich, wenn’s besser kommt.«

Oder, extra harsch: »Besser du als ich.«

Ich verspüre ein gerüttelt Maß an Fremdschämen, wenn sich im Internet wieder einmal jemand freut, dass bei einer Katastrophe ausgerechnet er selbst überlebt (es ist in den US-amerikanischen sozialen Medien häufiger).

Das klingt dann so: »1 Million Leute starben, aber ich nicht – Danke Gott!«

Wofür danken diese Leute genau? – Gott hat 1 Million Leute sterben lassen, aber Hauptsache dich nicht? Sind dir die anderen Leute egal? Dankst du Gott, dass er dich lieber hat?

Ich fürchte, es ist nicht vollständig durchdacht – ähnlich wie jene Zeile

Dankbar aus Kontext

Soll die Motivation meiner Freude sein, dass es Anderen schlechter geht?

Es wäre unehrlich, zu sagen, dass wir selbst es nicht regelmäßig genau so empfinden – und wir fühlen uns gar nicht mal schlecht dabei, auch nicht im moralischen Sinne schlecht.

Ich sehe den Kranken, und ich bin froh, gesund zu sein. Nein, seine Krankheit ist wahrlich kein Grund für mein Frohsein – aber meine Gesundheit, die mir erst im Kontrast zu seiner Krankheit neu bewusst wird.

Der junge Mensch sieht den alten Menschen, und er ist froh, zumindest statistisch mehr Lebensjahre vor sich zu haben.

Der Mensch aus der Mittelschicht sieht den Ärmeren, und er ist nicht unglücklich darüber, selbst nicht arm zu sein.

Nein, das Unglück der Anderen soll nicht unsere erste Motivation sein. Es ist aber ein Kontext. Alles hat Kontext, und der Kontext unseres Wohlseins ist die Möglichkeit des Unwohlseins.

Wo wir aber von Möglichkeit reden…

Ich, möglicherweise

Ich will ein Gedankenexperiment vorzubringen wagen!

Einige Philosophen glauben, dass es unendlich viele möglichen Welten gibt. Mit jeder Möglichkeit in meinem Leben entstehen parallele Welten, für jede Möglichkeit eine. – Wenn ich mich etwa entscheide, ob ich Pizza oder Salat essen will, entstehen dadurch zwei Welten. In einer esse ich Pizza, und in der anderen esse ich Salat.

(Wir diskutieren jetzt nicht, ob das mit einer kausal geschlossenen Welt kompatibel ist. Es ist ein schöner Gedanke, und Ästhetik ist auch eine Form von Wahrheit.)

Wir können Bonos Frage von 1984 heute neu formulieren: Bist du nicht froh, dass du du bist, und nicht du in einer möglichen anderen Welt, wo es dir nicht ganz so gut geht?

Ich, irgendwann

Es müssen ja nicht mögliche parallele Welten sein. Man kann es auch deutlich realistischer formulieren, mit Bezug zur Zeit!

Der Mensch, der ich heute bin, er steht in kausaler Beziehung zum Menschen, der ich früher war. Und derselbe heutige Mensch steht in kausaler Beziehung zum Menschen, der ich in einem Tag sein werde, in einem Jahr oder einem Jahrzehnt.

Geht es mir besser als dem Menschen, der ich war? Geht es mir besser – zum Beispiel gesundheitlich – als dem Menschen, der ich sein werde?

Ich, konkret

Ich erlaube mir, froh darüber zu sein, dass es mir in dieser Zeit und Realität besser geht, als es mir selbst in anderen Zeiten und möglichen Welten geht.

Heutzutage ist jeden Tag mehr 1984 (der Roman) – es liegt übrigens eine gewisse Ironie darin, dass Mark Zuckerberg im Jahre 1984 geboren wurde, am 14. Mai 1984 – und wenn ohnehin jeden Tag »mehr 1984« ist, dann kann auch jeden Tag »mehr Weihnachten« sein!

Ich beschließe, froh zu sein, dass ich bin, wer ich bin.

Es könnte schlimmer kommen – es könnte relativ schlechter sein.

Es könnte schlimmer kommen, und daher ist es heute relativ gut!

Weiterschreiben, Wegner!

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