Dushan-Wegner

23.03.2023

Das verbotene Wort

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten
Stellen wir uns eine Welt vor, in welcher die Regierung einzelne wichtige Wörter verbietet! Fragen wir uns doch: »Auf welches Wort könnte ich nicht verzichten?« (Ein Science-Fiction-Essay)
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Jede Stunde erinnern sie uns daran, dass wir das Wort nicht sagen dürfen, und so machen sie es unmöglich, jenes Wort zu vergessen.

Es wurde hier eben »uns« und »wir« gesagt. Das ist gefährlich. Es könnte als »potenziell destabilisierend« gedeutet werden. Es könnte Anlass sein für »ausgesprochene Überwachung«.

Es werden ja alle überwacht, bei der »ausgesprochenen Überwachung« aber wird der einzelne Überwachte per »verpflichtender Videoansprache« kontaktiert, und es wird ihm gegenüber »ausgesprochen«: »Du wirst überwacht.«

Der ausgesprochen Überwachte hat zu antworten: »Es wird überwacht.«

Antwortet der Überwachte unbedacht, dann sagt er etwa: »Ich werde überwacht«, oder er fragt sogar frech zurück: »Warum werde ich denn überwacht?«, und dann wird sogleich eine Verhaftung stattfinden.

Der ausgesprochen Überwachte hat zu antworten: »Es wird überwacht.«

Das verbotene Wort lautet: »Ich«.

Es ist Wissenschaft

Jede Stunde erinnern sie uns daran, und jede Stunde wird durchgesagt: »Es ist verboten ›ich‹ zu sagen! Folgt der Wissenschaft!«

Die Experten erklären sehr wissenschaftlich, warum dieses hässliche Wort verboten bleiben muss.

Die Wissenschaftler sagen, dass alle Probleme in der menschlichen Unsitte wurzeln, »ich« zu sagen – und die Idee hinter dem verbotenen Wort zu denken.

Die Regierung weiß, dass das Handeln dem Denken folgt, das Denken aber den Worten, das ist die altbekannte Wissenschaft. Wer das verbotene Wort sagt, der widerspricht darin der Wissenschaft, oder der Moral, was nach dem heutigen Stand der Wissenschaft dasselbe ist.

Die Begründung der Wissenschaftler ergibt ja durchaus Sinn: Wenn ein Mensch sagt: »Ich beraube dich«, und wenn ein anderer dann sagt: »Ich werde beraubt«, dann entsteht dadurch ein Raub. Und wenn keiner mehr derart »ich« sagt, dann existiert kein Raub. Ja, es kann gar nicht zur Tat kommen, die man sonst einen »Raub« nennen, denn niemand denkt mehr: »Ich will rauben!«

Jedoch die Menschen fanden Wege, das verbotene Wort zu umgehen.

Wenn ein Mensch einem anderen etwa seine Zuneigung versichern will, sagt er: »Es existiert jemand, dessen Herz schneller schlägt, sobald deine Nähe akut wird.«

Ist es aber gelungen, eine Beziehung einzugehen, und ist dann die Zeit gekommen, diese wieder aufzulösen, bietet sich ja seit ehedem eine Formulierung an, welche jenes wieder herausnimmt, das mit dem verbotenen Wort bezeichnet wird: »Es ist vorbei.«

Wie hoch geflogen?

Ja, es wird jede Stunde daran erinnert, dass »ich« zu sagen verboten ist. Doch indem daran erinnert wird, wird auch in einigen Zeitgenossen der böse Wille geweckt, es eben doch zu tun.

Es wird heute von geheimen Gruppen erzählt, die sich in Kellern und auf Dachböden treffen, um heimlich das Wort »ich« zu sagen. Die Regierung nennt sie die »Egoisten«.

Die Egoisten bedienen sich einer symbolreichen Sprache, wenn sie neue Rebellen rekrutieren und dafür tastende, anbahnende Gespräche führen.

Ein Egoist könnte etwa im Gespräch mit einem Suchenden sagen: »Der Vogel, der am Himmel fliegt, ob er sich wohl fragt, wie hoch geflogen wird?«

Es wird oft ratlos dreingeblickt, wenn solches gesagt wird, und dann insistiert der heimliche Egoist nicht weiter.

Ist ein Mensch innerlich bereit, sich den Egoisten anzuschließen, dann schießt es geradezu als Antwort aus ihm heraus, dass »es« sich das auch fragt – nur wird er eben statt »es« das verbotene Wort verwenden.

Die letzten Jahre

Es wird jede Stunde daran erinnert, dass »ich« nicht gesagt werden darf. Dennoch bildeten sich in den letzten Jahren immer mehr heimliche Egoisten-Gruppen. Es ist eines der unheimlichsten Geheimnisse.

Die Behörden erfahren durch die Überwachung meistens recht schnell von sich neu bildenden Egoisten-Gruppen.

Sobald man bei einer neuen Egoisten-Gruppe den Rädelsführer ausgemacht hat, wird dieser durch ausgesprochene Überwachung verwarnt, außer er ist bereits aus früheren Überwachungen bekannt. Dann kommt es zur Verhaftung, und es werden vorab zuverlässige Journalisten zur Festnahme eingeladen, um so die Egoisten öffentlich zu demütigen.

Der rebellische Geist

Trotz aller Überwachung, ob ausgesprochen oder gewöhnlich, trotz öffentlicher Verhaftungen und Demütigungen, trotz der wirtschaftlichen Nachteile und sozialen Risiken und trotz der stündlichen Mahnungen, das verbotene Wort zu meiden, bildeten sich zuletzt immer mehr Egoisten-Gruppen.

In den Egoisten-Gruppen aber besprechen die Egoisten so umstürzlerische Fragen wie: »Wer ist es, der spricht, wenn ich ›Ich‹ sage?«, oder, doppelt verboten: »Was erwarte ich von meinem Leben?«

Neue Egoisten sind oft schüchtern. Es geniert sie zunächst, das verbotene Wort auszusprechen. Also trinken sie sich etwas Mut an, und sollten sie dies allzu ausgiebig tun, dann lauten die Fragen gegen Morgen bisweilen: »Wer bin ich? Und wo wohne ich?«

Selbst mal heimlich

Es stellt sich selbstverständlich die Frage, woran es liegt, dass die Egoisten trotz aller Verbote nicht auszurotten sind.

Es könnte ja daran liegen, dass die Regierung stündlich an das verbotene Wort erinnert und der rebellische Geist eben davon geweckt wird.

Es kursieren Gerüchte, dass vereinzelt hohe Funktionäre aus Regierung und Behörden sich zu den Egoisten hingezogen fühlten, um selbst mal heimlich »Ich« zu sagen.

Beides mag stimmen, ebenso wie die naheliegende These, dass genug wohlhabende Individuen sich zu den Egoisten hingezogen fühlten, was diesen einen gewissen Schutz beschert. »Ich bin reich« sagen zu dürfen, strahlt ja eine nicht zu leugnende Erotik aus.

Die drei Fragen

Jedoch könnte es auch einen tiefer und zugleich weit höher liegenden Grund haben, dass Menschen sich zu den Egoisten hingezogen fühlen.

Es ist bekannt, dass jenes, wofür das verbotene Wort steht, ein bis heute unerklärtes Phänomen ist. Es bildet sich eine Zeit lang in der Materie – und später verschwindet es wieder.

Eine Zeit lang sagt der Mensch: »Ich bin«, und dass er es sagt und was es bedeutet, das sind die Fragen, von denen sich alle übrigen Fragen ableiten, und in die alle anderen Fragen münden.

»Ich bin«, »ich denke« und »ich fühle« – dass Menschen diese kurzen Sätze sagen können, das ist das große Wunder, das große Geheimnis. Diese Fragen zu erkennen, das ist, so hört man es, das ist die Arbeit der Egoisten.

»Ich« zu sagen im Bewusstsein aller sich daraus ableitenden Pflichten, Rechte und Möglichkeiten, das ist im grundlegendsten wie auch im erhabensten Sinne menschlich.

Ach, wie freut sich das Kind, wenn der Jahrestag seiner Ich-Werdung gefeiert wird, wenn es sagen kann: »Ich habe Geburtstag!« (Streng genommen nimmt der Mensch sich erst einige Zeit nach seiner Geburt als »Ich« wahr, doch wer will so übergenau sein?)

Und mit dem Tod endet das »Ich« wieder. Es sei denn, der Mensch fällt zwischendurch ins Koma. Oder er geht nachts schlafen. Dann legt das Ich jeweils Seinspausen ein.

»Ich« sagen zu können, das ist Grund zur Freude!

»Danke für diesen guten Morgen«, so sangen wir früher, und im Grund sagten wir damit: »Wie schön ist es, ein Ich zu sein!«

Wir verlieben uns, und was sagen wir? »Ich bin verliebt« und später vielleicht: »Ich bin Vater« oder: »Ich bin Mutter«.

Wir erlernen einen Beruf, und was sagen wir? Wir sagen: »Ich bin Metzger« oder: »Ich bin Maurer«.

Wenn wir fröhlich sind, dann sagen wir: »Ich bin fröhlich«.

Und wenn wir traurig sind, dann sagen wir: »Ich bin traurig«, doch auch das ist ein schönes Gefühl, denn im Traurigsein spüren wir, dass es eben ein „Ich“ gibt, das sich als solches wahrnehmen kann.

Menschen durchleben bisweilen die schrecklichsten Situationen – und dann sind sie doch froh, sie durchlebt zu haben, und sie sagen: »Endlich habe ich mich selbst gespürt!«

Jedoch: All diese schönen Sätze mit »ich« sind es nicht, welche die Regierungen fürchten.

Nicht, sondern

Was die nervös macht, sind Sätze wie: »Ich denke selbst«, »Ich sehe das anders« und »Ich glaube euch kein Wort«.

Nicht »Ich denke« sollst du sagen, sondern: »Es steht fest«.

Nicht »Ich habe für mich entschieden« sollst du sagen, sondern: »Man muss«.

Zeige mir eine Gesellschaft, in der die Menschen unglücklich sind, depressiv und hoffnungslos, und ich zeige dir eine Gesellschaft, in welcher die Menschen sich zwar noch vage erinnern, was »ich« bedeutet, aber sich nicht mehr trauen, »ich« in sinnvolle Sätze einzubauen.

Mit der richtigen Attitüde ausgesprochen, liegt im »Ich« eine magische Kraft, die blanke Freude am Sein selbst, der Beginn aller weiteren Möglichkeiten und damit der Freiheit selbst.

Ach, im Privaten gehören viel mehr Menschen den Egoisten an, als du gemeinhin glaubst. Du bist nicht allein!

»Mehr Mut!«, so sage ich. »Habt mehr Mut, seid Egoisten, was auch immer die Behörden fordern, und sagt: Ich bin. Ich denke und ich fühle. Und ich selbst zu sein, das ist meine erste wahre Menschenpflicht.«

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