28.12.2024

Etwas wird nachgeben müssen

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild: »Anderer Berg, verwandter Baum«
Zu Weihnachten treffen sich traditionell Menschen, die angeblich irgendwie verwandt sind, aber bisweilen sehr unterschiedlich ticken. – Brutaler Fakt, der das ganze Jahr gilt: Das Gefasel mancher Menschen kann schmerzhafter sein als Einsamkeit. Was tun?
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Mit Gentests stellt man fest, ob zwei Menschen genetisch verwandt sind. Ob der eine vom anderen abstammt. Ob sie gemeinsame Vorfahren haben. Ob man womöglich eine geerbte Krankheit in sich trägt. Oder, so las ich jüngst, man testet die DNA von eintausend Männern, ob sie nicht vielleicht der DNA gleicht, die man am Tatort eines Mordes vorfand.

Manche unserer stets rätselhaften Mitmenschen drängt es danach, diese Dinge ganz genau zu wissen, und die lassen dann solche Tests machen – hoffentlich mit Zustimmung der Getesteten. Befruchtete Eizellen, die ihre Gesundheit nachweisen müssen, um nicht vernichtet zu werden, müssen diesen Tests nicht erst zustimmen, das entscheiden die werdenden Eltern – oder eben Nicht-Eltern.

Manche Menschen wollen lieber nicht wissen, welche Informationen ihre Gene enthalten, ob über Verwandtschaftsverhältnisse oder geerbte Krankheiten. Und einige wollen vor allem nicht, dass andere die diesbezügliche Faktenlage erfahren, und jeder wird seine oder ihre gewiss sehr berechtigten Gründe nennen können.

Immer wieder ist es aber der rührende Fall, dass solche genetischen Zusammenhänge mit bloßem Auge zu erkennen sind!

»Ganz die Mama«, sagt man dann zum Beispiel, oder: »Ganz der Papa, kein Gentest notwendig!« (Dass wir solche Momente sichtbarer Blutsverwandtschaft so herzerwärmend finden, ist bei kühlerer Betrachtung auch nur ein weiterer Hinweis darauf, dass Gefühle ein Mittel der Evolution sind, uns Menschen zu komplexeren Vorgängen zu animieren. Zur Sicherung des »genetischen Zusammenhangs« innerhalb eines Stammes sind die reagierenden Instinkte zwar wichtig, doch sie benötigen für ihre Wirksamkeit den von agierenden Gefühlen abgesicherten Rahmen.)

»DNA« steht eigentlich für Deoxyribonucleic Acid. Auf Deutsch: Desoxyribonukleinsäure. Diese Nukleinsäure ist das Makromolekül, in welchem das Leben sich selbst programmiert.

In der Sprache, die wir die »Alltagssprache« nennen, hat es sich etabliert, auch außerbiologische Gemeinsamkeiten – und Unterschiede! – als DNA zu beschreiben.

Anhänger eines Fußballvereins zu sein, das wird gelegentlich als DNA beschrieben, welche dann von Generation zu Generation vererbt wird – so schön!

Von Religionen und Parteien wird gern gesagt, sie hätten eine DNA, und von den Anführern wird dann verkündet, dieses oder jenes Denken und Verhalten sei »Teil unserer DNA« (oder eben nicht).

Musik und Kulturen haben eine DNA, und Kulturwissenschaftler verfolgen diese Gene über Jahrhunderte zurück.

Man darf wohl auch sagen, dass der persönliche Blick auf die Welt einschließlich der damit verbundenen Gefühlskonstellationen eine Art von DNA tragen, eine einzigartige Struktur, die sich von anderen Strukturen grundsätzlich unterscheidet – und doch von anderen Menschen geteilt werden kann.

Ich will euch, liebe Leser, hier einen bestimmten Sachverhalt beschreiben, eine emotionale DNA und damit eine bestimmte Sicht auf die Welt.

Die einen werden zu dieser DNA-Offenlegung sagen »Was für eine widerliche Mutation!«, und sie werden sich wünschen, ich gehörte zu jenen, die die Details ihrer DNA – auch und vor allem ihrer emotionalen DNA – lieber geheim halten.

Andere von euch werden sich in meiner hier beschriebenen DNA wiedererkennen wie einer, der seinen verschollenen Zwillingsbruder an der Nase erkennt oder an der Art zu gehen, weil die Nase seiner Nase gleicht oder der Schritt seinem Schritt. So einer ruft freudig aus: »Das bin ja ich! Das ist mein Bruder, meine Art, meine DNA! Das sehe ich gleich, das fühle ich gleich, da braucht es keinen Gentest!«

Hier also ein Einblick in meine emotionale DNA – und auch zugleich ein Geständnis: Ich bin zerrissen zwischen dem Wunsch nach Gemeinschaft und dann jenem Seelenschmerz, der sich einstellt, wenn Menschen dumme, unnötige Dinge sagen, doch es nicht ratsam ist, ihnen zu widersprechen, sie auf die Dummheit, die Banalität und den Mangel an Notwendigkeit ihrer Aussagen hinzuweisen.

Erkennt ihr euch bereits in dieser kurzen Beschreibung meiner Zerrissenheit wieder? Oder stößt euch diese Beschreibung ab?

Geht euch das Verständnis ab, empfindet ihr es vielleicht sogar als unmoralisch, dass ein Mensch es unerträglich finden könnte, die Belanglosigkeiten seiner Mitmenschen über längere Zeit anzuhören? Ist ein solcher Schmerz nicht geradezu … unchristlich?

Oder ähnelt eure emotionale DNA womöglich der meinen? Erkennt ihr euch gar wieder?

Wie ein Blinder, der sich nach dem Louvre sehnt, so bin auch ich tatsächlich ein harmoniebedürftiger Mensch. Ich ertrage es bloß nicht, den Preis der Harmonie zu zahlen.

Es bereitet mir ja wahrlich keine Freude, Menschen vor den Kopf zu stoßen, wenn ich sie spüren lasse, wie mir die verlässliche Flachheit und andauernde Unbedachtheit ihrer profanen Äußerungen körperliche Schmerzen bereitet. (Es ist ja dazu auch noch so vergeblich! Wer sich derart von mir vor den Kopf gestoßen fühlt, wird ja durch diese meine Grobheit nicht klüger werden! Er wird mich vielmehr als Grobian und Möchtegern abtun und sich dann nicht weiter mit mir beschäftigen. In Angelegenheiten des Geistes sind ja auch Erwachsene oft genug wie Kinder, welche die ungesunde Süßigkeit dem gesunden Brot vorziehen.)

Ich bin zerrissen zwischen zwei meiner Eigenschaften, und von beiden vermute ich, dass sie mir auf einer derart tiefen Ebene eigen sind, dass man sie als angeboren bezeichnen könnte – als meine DNA. (Zu weiteren Ausführungen bezüglich menschlicher Zerrissenheit sei mein Büchlein »Dazwischenwesen« empfohlen.)

Ich sollte ertragen, so fordert jene moralische Instanz, die man einst als gute Kinderstube kannte. Doch jene andere Instanz, den Lateinern als Memento Mori bekannt, mahnt mich: Das Leben ist kurz, jeder Tag kommt nur einmal, jede Minute auch. Und welcher Lohn außer einem moralischen sollte mir zuteil werden, wenn ich, von Schmerzen und Langeweile gequält, meine Zähne zusammenbeiße, mit Mühe ein Lächeln grimassiere, und mir anhöre: »Und dann hat der gesagt … und dann hat die gesagt … und die Politik, ganz schlimm, kann man aber nichts machen … der Kollege war letzten Sommer auf Kreuzfahrt, wir überlegen dieses Jahr auch, aber meine Frau weiß noch nicht, ist ja windig auf Deck … bla, bla, bla.«?

Das harmonische Miteinander mit meinen Mitmenschen und – carpe diem – das Pflücken des Tages – es sind zwei Strukturen, die mir beide sehr relevant sind (bezüglich der Relevanten Strukturen siehe natürlich mein Buch dieses Namens), und die ich doch nicht beide zugleich zu stärken vermag. »Something’s gotta give«, so sagen die Amerikaner (und ich empfehle gern den Film gleichen Namens mit Jack Nicholson): Etwas wird nachgeben müssen.

Dass der Mensch nicht allein sein will, diese Eigenschaft hat die Evolution so ausgesucht – zufriedene Eigenbrötler findet man im Verwandtschaftsbaum regelmäßig an den Enden der Äste.

Aus den Astspitzen wachsen keine weiteren Äste mehr – und doch wachsen dort im Frühjahr nicht selten die schönsten Blüten.

Ich habe eingesehen, dass es vergeblich ist, diese Zerrissenheit heilen zu wollen. Wer einen echten Widerspruch lange studiert, der wird ihn nicht auflösen, doch er wird tiefer verstehen, wie dieser Widerspruch logisch beschaffen ist, und dadurch dann, warum er unauflösbar ist – und sich so womöglich mit der Widersprüchlichkeit arrangieren.

Ich versuche nicht – nicht mehr – diese Zerrissenheit zu heilen. Ich habe verstanden, und ich will mich arrangieren.

Ich habe die Zerrissenheit und ihre Unabwendbarkeit als solche angenommen – nicht aber ganz die Einsamkeit.

Ich suche die Gemeinschaft der Seelenverwandten, die gerade nicht da sind.

Weiterschreiben, Wegner!

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