Du sollst dich schämen, so schrieb ich, und ein Leser wies mich weiterführend auf jenes (ebenfalls fälschlicherweise) einem großen Namen, nämlich Sigmund Freud zugeschriebene Zitat hin, der Verlust des Schamgefühls sei das erste Anzeichen des Schwachsinns.
Ein Leser wies mich allerdings auf die korrekte und reale Quelle jener Idee hin, die vermutlich das falsche Zitat inspirierte, und dort sagt Freud unter anderem: »Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen.« – Nein, von Schwachsinn spricht er nicht – es wäre wohl nicht sein Stil – aber immerhin von Enthemmung. Und von Zerstörung.
Pseudepigrafie und du
Das Phänomen, dass kluge Sätze berühmten Menschen zugeschrieben werden, wird fachsprachlich »Pseudepigrafie« genannt.
Jemandem ist ein kluger Satz eingefallen, so steht zu vermuten, und er wollte diesen Gedanken verbreitetet wissen, doch dieser Mensch war selbst nicht berühmt und traute dem Satz allein nicht die nötige Durchschlagskraft zu, sprich: Er hielt die Masse für zu abgelenkt et cetera und lag damit vermutlich richtig. Also versah er seinen klugen Satz mit einem fremden Namen, opferte gewissermaßen sich oder zumindest seine Autorschaft im Dienste der klugen Sache.
Mit dem großen Namen als Autor appelliert das »Zitat« an die Autoritätshörigkeit des Publikums. Ein großer Name strahlt über allem in ebendiesem Gesagten wie ein Heiligenschein und verleiht selbst banaleren Wahrheiten den Glanz höherer Weisheit. (Deshalb wüten, schäumen und lügen natürlich auch derzeit die Kanaillen des Propagandastaates so, wenn sie erleben müssen, wie der US-Milliardär und Internet-Spaßmacher Elon Musk einen Wahlaufruf für die einzige inhaltliche Oppositionspartei in Deutschland in der Zeitung Die Welt veröffentlicht.)
Manche Pseudepigrafien der Geschichte hätte ohne Zweifel auch ohne die falsche Zuschreibung eigenes Gewicht. Ja, an den Namen manches Autors erinnern wir uns heute erst wegen der ihm zugeschriebenen Texte! Den Namen Hermes Trismegistos etwa würden wir weit seltener nennen, wäre nicht das pseudepigrafische Corpus Hermeticum.
Ach, der Pseudepigrafien sind so schmerzhaft viele!
»L’état, c’est moi!« – der Staat bin ich – nicht für Ludwig XIV. belegt.
»Lasst sie Kuchen essen« – nicht für Marie Antoinette belegt.
»Die Toleranz wird ein solches Niveau erreichen, dass intelligenten Menschen das Denken verboten wird, um Idioten nicht zu beleidigen.« – nicht für Dostojewski oder sonst einen Prominenten belegt.
»Die meisten mir zugeschriebenen Zitate sind einfach frei erfunden«, so stellte schon Albert Einstein fest, und es stimmt, ebenso übrigens wie das interessante Studienergebnis, dass 69 Prozent der heute kursierenden Statistiken frei erfunden sind.
Ob als kritische Denkwillige oder als denkwillige Kritiker: Wir spüren bei diesen nachweislich falsch zugeschriebenen Zitaten regelmäßig den Drang, aufgrund der falsche Zuschreibung auch gleich deren Inhalt abzulehnen – doch das wäre ein Fehler!
Die Babylonier waren’s
Die vermutlich einzige mathematische Formel, welche die meisten Schüler aus ihrer Schulzeit mitnehmen, ist der Satz des Pythagoras …, jedoch: Eine Formel, die »a2+b2=c2« entspricht, findet sich bereits auf einer babylonischen Keilschrifttafel, und in China war die Formel als »Satz der Gougu« bekannt.
Dass also Pythagoras den Satz vermutlich von den Babyloniern kannte, nimmt doch nichts von der mathematischen Wahrheit des Satzes!
Ich finde das alles ja geradezu liebenswert. 150 Millionen Kilometer von ihrer Sonne entfernt, stetig um diese kreisend, mit den Planeten Venus und Mars als Nachbarn, im Spiralarm Orion einer Galaxie, die sie Milchstraße nennen, mit 250 Milliarden Sternen (plusminus 150 Milliarden Sterne, so genau weiß man das nicht), mit Proxima Centauri als dem nächsten Stern, bloß 4 Lichtjahre entfernt, mit der Galaxie Milchstraße als Teil einer größeren Galaxiengruppe mit 80 weiteren Galaxien und einem Gesamtdurchmesser von 10 Millionen Lichtjahren, wissend, dass die Milchstraße und die Nachbargalaxie Andromeda einander anziehen und in 4 Milliarden Jahren kollidieren werden, und im vollen Bewusstsein der Dimension, dass ebendiese Galaxiengruppe selbst wiederum Teil eines Galaxienhaufens namens Laniakea ist, wobei die Milchstraße eher in dessen äußerem Bereich herumgurkt – dort also, auf dem dritten Planeten von ihrer eigenen Sonne aus, im Orion-Arm ihrer Milchstraßen-Galaxie und auch innerhalb dieser nur in den Außenbezirken, auf einer winzig kleinen Steinmurmel, innen mit heißer Lava gefüllt, außen mit einer hauchdünnen Schicht aus Wasser und Atmosphäre bedeckt, da laufen Menschen herum, erfinden kluge Sätze und schreiben diese klugen Sätze dann ganz anderen Leuten zu, in der Hoffnung, so würden die tumben Mitmenschen hoffentlich auf diese Klugheit hören – und selbst endlich klüger werden!
Nicht selten aber passiert es, dass die fälschlich zugeschriebenen Zitate das einzige sind, das der Pöbel von diesen Namen gehört hatte – wenn er überhaupt etwas von diesen Namen hörte.
Wäre es Grausamkeit zu nennen oder eher unverdiente, wenngleich unverschuldete Lorbeeren, wenn die Weisheit, für die ein Großer am häufigsten groß genannt wird, gar nicht von diesem stammt? Ach, sie ist doch eine gar amüsante Angelegenheit und in ihrer Tollpatschigkeit geradezu liebenswürdig, diese niedliche, gernegroße Menschheit.
Geradezu wissenschaftlich
Nein, sie stammt wohl nicht wirklich von Freud, jene Erkenntnis, dass der Verlust des Schamgefühls der Beginn des Schwachsinns ist. Doch ein bissiger Geist könnte scherzen wollen, dass sie von seinen Thesen über den Menschen die treffendste wäre.
Vor allem aber: Unsere Lebenserfahrung bestätigt es als wahr! Ja, man kann es geradezu wissenschaftlich nennen.
Eine wissenschaftliche These muss zweierlei leisten: bestehende Phänomene erklären und zukünftige Entwicklungen vorhersagen. Das eine möglichst nachvollziehbar, das andere möglichst richtig. – Genau dies aber leistet ja die These vom Schamverlust als Beginn des Schwachsinns, ob sie nun von Freud, Pythagoras oder Einstein stammt.
Hätte man uns gefragt, ob Scham und ihr Fehlen über Steigerungsformen verfügen, hätten wir wohl zugestimmt, wenn wir auch bis zum Zeitpunkt der Fragen vermutlich nie darüber nachgedacht haben. In diesen Tagen aber erleben wir live und in Farbe den Aufstieg auf der nach oben offenen Skala der Schamlosigkeit. Zugleich fiele es schwer, die politischen Bestrebungen des Landes nicht in Termini schwerer psychologischer Fehlstellungen zu beschreiben.
Es ergibt ein Bild
Wir sprachen davon, dass etwa in der Bibel und in der christlichen Mythologie regelmäßig die Schamlosigkeit und die Nacktheit zusammengehen. Im Paradies schämten sich die Menschen noch nicht, in den Höllenillustrationen des Mittelalters schämen sich die Verdammten nicht mehr.
In der Bibel steht Nacktheit infolge von Schamlosigkeit regelmäßig als Indikator für einen von drei Zuständen: Nacktheit zeugt von göttlicher Verzückung und prophetischer Erregung (1. Samuel 19:23-24, Jesaja 20:2-3), sie zeugt von dämonischer Besessenheit (Lukas 8:27), und recht früh in der Bibel zeugt Nacktheit von Trunkenheit (1. Mose 9:20-23 – als Noah sich nach der Sintflut einmal besoff und nackt in seinem Zelt einschlief).
Dies aber ist der Punkt, an welchem unsere Erkenntnisse zur Schamlosigkeit, zu Schwachsinn, zu Nacktheit, zur Trunkenheit und vielleicht sogar zur Rolle des Menschen im Universum ineinandergreifen – es ergibt ein Bild.
Noch nicht der Fall
Unsere Tradition kennt drei »philosophische« Erklärungen für Schamlosigkeit: totale Unschuld, totale Schuld und Wahnsinn – und ein »praktisches« Szenario für Schamlosigkeit, nämlich jener Trunk, in sprichwörtlich die Wahrheit zu finden ist, welche »nüchtern« auszusprechen ja wechselweise von Wahnsinn, von Bosheit oder von grober Naivität zeugen kann.
Jenes Pseudo-Freud-Zitat aber beschreibt schlicht eine naheliegende Schlussfolgerung aus tausenden Jahren menschlicher Erkenntnis.
Wenn eine Gesellschaft ihre Scham verliert, kann das daran liegen, dass sich paradiesische Zustände eingestellt haben. Außer für gewisse Gewissenlose und eben nur für die, ist es derzeit noch nicht vollständig »paradiesisch« (dass frühere Zustände aus heutiger Perspektive so erscheinen können, ist wieder ein eigenes Thema).
Schamlosigkeit könnte auch damit begründet sein, dass das Land bereits zur Hölle wurde, und auch das ist gottlob noch lange nicht vollständig der Fall, selbst wenn, frei nach Shakespeare, die Hölle leer ist und die Dämonen jetzt allesamt deutsche Presseausweise tragen.
Wenn aber sowohl die Hölle als auch der Himmel als vollständige Erklärungen der neuen Schamlosigkeit ausfallen, dann bleibt eben nur der Schwachsinn.
Was wird folgen?
Der öffentlichen Debatte – die ja in alter Bedeutung längst keine Debatte mehr zu nennen ist, geschweige denn Diskurs – ist die Scham abhanden gekommen. Der deutsche Verlust der Schamlosigkeit geht, exakt wie die These erklärt und vorhersagt, mit dem längst eingesetzten kollektiven Schwachsinn einher.
Was wird als nächstes folgen?
Nun, das sagte der echte Freud präzise voraus: »Die Zerstörung der Scham bewirkt eine Enthemmung auf allen anderen Gebieten, eine Brutalität und Missachtung der Persönlichkeit der Mitmenschen.«
Es wird noch wahnsinnig »spannend« werden auf diesem Planeten, ob wir mit »Planet« nun die Erde meinen oder unser charmante Außerirdischen-Station »Deutschland«.
Man möchte es beinahe Noah gleichtun und sich jener vierten Form von Schamlosigkeit hingeben, in welcher magischerweise Dämonen und Wahrheit zu finden sind, der Himmel währenddessen und die Hölle am Morgen danach. (Nur möge euer Morgen-danach nicht, wie bei Noah, einen Nahostkonflikt viele Jahrtausende später zur Folge haben!)
Die Kunst des Lebens besteht heute auch darin, am Wahnsinn unserer Zeit nicht selbst wahnsinnig zu werden. Ich will das nüchtern angehen, aber nicht griesgrämig. Hoffnungslos, aber nicht depressiv.
Das Schamgefühl aufrecht erhalten.
Nur privat etwas Wahnsinn wagen und zur Motivation in den Badezimmerspiegel deklamieren: »L’étau, c’est moi.«
Manchmal vielleicht auch ein Glas Wein, ob nun auf das Ende der Sintflut oder den steigenden Meeresspiegel anstoßend, und dazu natürlich ein Stück Kuchen, so wie Marie Antoinette es empfahl.