»Schau dir nur all diese anderen Menschen an«, so dachte ich früher bei mir, wenn ich mich am Morgen in der Straßenbahn drängelte, um einen Stehplatz oder sogar einen Sitzplatz zu ergattern.
»Diese Robotniks, diese Ausführenden und Gehorchenden. Brave Arbeitsbienen sind sie. Wie Insekten, zu sortieren nach Nützlichkeit und Lästigkeit. Wie sie in die Gegend stieren! Bin ich denn der Einzige, der ein Bewusstsein hat? Ich denke, also bin ich, das weiß ich. Doch diese Leute, ›sind‹ die überhaupt?«
Die Straßenbahn hält an. Jemand verlässt seinen Sitzplatz. Ich will mich auf den freien Platz setzen, um lesen zu können. Doch eine rücksichtslose Alte kommt mir zuvor.
Eine Unverschämtheit, nein, eine Dummheit! Wenn ich gesessen hätte, hätte ich in Ruhe etwas Kluges lesen können. Vielleicht hätte ich sogar etwas geschrieben. Hätte die Menschheit vorangebracht. Was aber macht diese Alte?
Die Alte sitzt und stiert, lässt die Gelegenheit gänzlich ungenutzt.
Doch, nein, ich muss meinen Ärger bremsen.
Dass andere Bahnbenutzer allesamt nur gedankenlose Arbeitsbienen sind, und selbst das nur im besten Fall, dachte ich nur früher, als ich jung war. Heute bin ich – und das möchte ich betonen –, heute bin ich empathisch!
Nein, ich war kein guter Mensch, als ich jung war. Ich bin noch immer kein so guter Mensch (und anderes zu behaupten wäre eben auch nicht gut), doch mit den Jahren lernte ich zumindest in der Theorie, was es bräuchte, um ein guter Mensch zu sein.
Und ein guter Mensch, so lernte ich, ist empathisch.
Empathie ist eine innere, geistige Handlung, mit deren Hilfe ich in mir die Gefühle und Gedanken aktiviere, die ein anderer Mensch vermutlich empfindet. Manche nennen es auch Mitgefühl.
Empathie ist, wie wenn ich auf einen Krüppel treffe, mir daraufhin gleich eine Axt suche und mein rechtes Bein oberhalb des Knies abschlage, um zu fühlen, was der Krüppel fühlt. Ja, so etwa ist Empathie, nur dass Empathie bloß eingebildet bleibt, was wiederum die Möglichkeit zum Empathiebetrug eröffnet.
Einige derer, die am penetrantesten ihren Reichtum präsentieren, ertrinken tatsächlich in Schulden. Und einige derer, die sich öffentlich am empathischsten geben, sind tatsächlich innerlich hart und kalt wie gefrorener Stein. (Ich weiß nicht, warum man Steine einfrieren sollte, doch ich wollte mich an dieser Stelle in Metaphernsparsamkeit üben. Zwei Fliegen mit einem Stein einfrieren, aber empathisch.)
Die nächste Station. Niemand steigt aus, aber weitere Leute steigen ein. Mit Rucksäcken.
Das Gedränge wird dichter, meine Empathie wird hart getestet.
Leute mit Rucksäcken wecken Wut in mir, wenn sie diese auch in der Bahn auf dem Rücken behalten.
Merken die nicht, wie sie mit jeder Drehung ihren Mitmenschen das Gepäck ins Gesicht schlagen?
Nehmen wir an, es gelang dir, all die drängelnden alten Frauen zur Seite abzudrängen. Unter großem persönlichen Einsatz kamst du all den Müttern, Kindern, Kriegsversehrten und sonstigen Dränglern zuvor und hast dir einen Sitzplatz gesichert.
Du ziehst deine vorbereitete Lektüre hervor. Die Bergpredigt vielleicht. Oder das Dhammapada. Wenn’s was Leichtes sein soll, auch mal Marc Aurel.
Just als die erste Vertiefung gelingt, schlägt dir unversehens ein Rucksack ins Gesicht. Ich weiß nicht, wie es euch dabei geht, aber meine Konzentration ist dann erst mal dahin.
Rucksackträger sind so wenig empathisch! Ach, wenn die Menschen nur so empathisch wären, wie ich – die Welt wäre gerettet!
Die nächste Station, die Bahn hält wieder an. Hier muss ich aussteigen.
Ich bin halb aufgestanden, schon stürzt eine Arbeitsbiene auf den Sitzplatz, den ich auf halbem Weg ergattert hatte. Ich will ihr es gönnen, ich habe Mitgefühl.
Außerdem ist es mir jetzt egal. Soll die Straßenbahn doch nach mir aus allen Nähten platzen oder leer weiterfahren, soll sie doch in den Untergrund fallen oder zum Himmel steigen.
Ich kann keine weitere Zeit und Mühe darauf verschwenden, über all diese Robotniks mit ihren Rücksäcken, Krücken, Kindern und sonstigen Leben nachzudenken.
Ich kaufe jetzt einen Kaffee und begebe mich in mein Büro. Ich muss schreiben, über meine Empathie und andere wichtige Dinge.
Später dann, im Aufzug, fällt mir ein, dass die anderen Leute umgekehrt vielleicht mich für einen Robotnik halten, einen Ausführenden, genauso in seinen Täglichkeiten gefangen wie sie selbst.
Was für eine Naivität, ja, was für eine Frechheit!