Dushan-Wegner

23.10.2019

Wer hält die Zügel?

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten, Bild von v2osk
In Herne gehen Türken und Kurden aufeinander los, mit Knüppeln und Latten. In Hamburg pöbelt linker Mob in Vorlesung von Prof. Dr. Lucke, bis abgebrochen wird. Derselbe Geist. Viel Emotion, wenig Ratio. Wann haben wir denen die Zügel übergeben?
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Meister und Schüler gingen über den Markt. An einem Stand verkaufte ein hagerer Händler süße Datteln.

Ein dicker Mann kam an den Dattelstand. Der Verkäufer rief: »Nimm eine Dattel, diese Datteln sind so süß wie keine anderen!«

Der Dicke sah die süßen Datteln, seine Augen und seine Lippen wurden feucht. Er stammelte: »Mein Arzt sagt, ich soll nicht so viel Süßes essen. Diese Datteln sehen aber wirklich köstlich aus!«

Eine Träne rollte über sein aufgedunsenes Gesicht.

Der Dattelverkäufer sagte: »Was weiß schon der Arzt? Nichts als trockenes Bücherwissen! Folge deinem Gefühl! Wie kann es falsch sein, seinem Gefühl zu folgen!«

Der Dicke schüttelte den halslosen Kopf. Sein Kopf klebte auf seinen Schultern und sein Blick klebte an den Datteln.

»Lausche in dich hinein!«, drängte der Verkäufer, »was sagt dir dein Gefühl, was spricht dein Herz?«

Da schrie es aus dem Dicken: »Ich will süße Datteln! Gib mir süße Datteln!«

Der Meister lächelte, doch er lächelte traurig.

Er sagte zum Schüler: »Die Gefühle eines Menschen sind wie Pferde vor einer Kutsche. Sie ziehen den Wagen, den Kutscher und die Insassen. Sie ziehen schneller und weiter, als ein Mensch ohne ihre Hilfe je gelangen könnte.«

Sie gingen weiter, betrachteten die Marktstände und erfreuten sich an den Waren, welche die Händler am Morgen gebracht hatten.

Der Schüler fragte: »Gibt es denn gute und schlechte Gefühle?«

Der Meister blieb stehen. Er fragte: »Was würdest du als eine gelungene Fahrt mit der Kutsche bezeichnen?«

Der Schüler sagte schnell: »Natürlich eine Fahrt, die mich ohne Unfall, angenehm und schnell an mein Ziel bringt.«

Der Meister nickte, dann sagte er: »Und eine schlechte, misslungene Fahrt wäre doch eine, bei der die Passagiere einen Schaden davontragen oder gar nicht erst an ihr Ziel gelangen.«

Der Schüler nickte.

»Nun denn«, sagte der Meister, »wenn die Kutschfahrt für das Leben des Menschen steht und die Pferde für die Gefühle, an wem liegt es, wenn die Fahrt gelingt? Was ist wohl passiert, wenn die missgelingt?«

Der Schüler zögerte, dachte etwas nach, dann sagte er: »Der Kutscher ist es doch, der die Pferde lenkt«. 

Der Meister nickte.

Der Schüler sagte weiter, nun schon weniger zögernd: »Der Kutscher lenkt die Pferde. Durch der Tiere Kraft kommt die Fahrt voran. Doch, nur wenn der Kutscher seine Pferde klug und richtig lenkt, wird die Fahrt auch ein Erfolg.«

Der Meister nickte wieder, er sagte: »Wenn einer behauptet, er folge nur seinem Gefühl, dann frage ihn, wer es ist, dem seine Gefühle folgen!«

Nachrichten aus der emotionalen Republik

Auffällig viele der Nachrichten, die uns heute bewegen, haben mit überbordenden Gefühlen zu tun. Manches, was sich heute selbst als »politische Meinung« betrachtet, ähnelt mehr einem scharfen Eintopf ungezügelter Emotionen.

Da wäre etwa eine »politische« Schlägerei in Herne:

Schon wieder eine Schlägerei zwischen Türken und Kurden in Herne! (…) Ein Polizeisprecher am Dienstag: »Man hatte Knüppel und Latten dabei.« (bild.de, 22.10.2019)

Simple Frage: War es Emotion oder Rationalität, was diese jungen Männer antrieb? Anzunehmen, dass es Ratio war, welche diese jungen Männer antrieb (sprich: dass es um organisierte Gang-Gewalt außerhalb aller rechtsstaatlicher Normen geht), das wäre noch schrecklicher als die Annahme, dass hier überbordende Emotionen im Spiel sind. Deutschland hat es mit Menschen zu tun, die ihre Emotionen, um es höflich zu sagen, nicht immer auf dieselbe Art »im Griff« haben wie der wohldressierte Bravbürger.

Die Schlägerei zwischen Türken und Kurden ist nicht der einzige Ausbruch von Gewalt und Emotionen, jenseits von Recht und Ratio. Wir lesen: »Wurde Azizullah N. (23) aus Wut und Verzweiflung zum Killer? Der Elektriker-Azubi hat bei einem Abendessen mit einem Einhandmesser 32 Mal auf seinen besten Kumpel Assad N. (23) eingestochen. Tatort: Assads Wohnung.« (bild.de, 22.10.2019) Oder: »Er nahm ein Messer und griff die auf einem Bett mit dem Rücken zu ihm liegende Frau von hinten an. Er habe nicht erwartet, dass so etwas passiere. Es habe auch keinen Grund gegeben, sie umzubringen, er sei wütend und in einem Fieber gewesen, sagte der 28 Jahre alte abgelehnte Asylbewerber.« (bild.de, 21.10.2019

Ja, es ist ein Trend, und längst nicht alle Fälle sind importiert. Sogar Gutmenschen, welche gewisse Schuld an der importierten Gewalt tragen, werden meist zustimmen, dass solche Gewalt böse ist. Eine andere Form von emotional motivierter Gewalt jenseits von Argumentation und Ratio findet unter denen, die sich »gut« finden, gelegentlich sogar Anerkennung.

Deutschland erlebt bald täglich Fälle linker Gewalt gegen Abweichler, von Brandanschlägen bis hin zu Angriffen linker Schlägertrupps, doch erst wenn es Nicht-Oppositionelle trifft, findet es ein nennenswertes Echo.

Thomas de Maizière wird immer in Erinnerung bleiben für seinen Moment der Wahrheit bei einer Pressekonferenz 2015: »Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern« (welt.de, 18.11.2015). Gestern nun sollte und wollte er in Göttingen eine Lesung seines neuen Buches halten. Sie musste abgesagt werden. Der Grund: Linke »Aktivisten«, teilweise aus der »Fridays for Future«-Bewegung (die immer häufiger offen anti-demokratisch auftritt und sich mit der Antifa zu überlappen scheint). Vom Veranstalter hieß es: »Die Polizei hält es für zu gefährlich, wir müssen uns der Gewalt beugen« (focus.de, 23.10.2019). Es soll zu Übergriffen gekommen sein, und die Polizei wollte, so die Berichte, es nicht zu mehr als »nur« zu zerrissener Kleidung durch den emotionalisierten, teils vermummten linken Schlägertrupp kommen lassen.

Heute, am Mittwoch, dem 23.10.2019, versuchte Prof. Dr. Lucke pflichtgemäß eine Vorlesung in Hamburg zu halten. Es geht um das eher kühle Thema Makroökonomie. Obwohl es eine Einlasskontrolle gab, gelang es einem aufgepeitschten linken Mob, die Vorlesung abbrechen zu lassen (bild.de, 23.10.2019). Es war nicht das erste Mal. Aus den Äußerungen dieser Individuen wissen wir, dass ihr Denken eher wirr ist, ihre Argumentation krude und ihre politische Position eine konfuse Mischung aus Versatzstücken linker Klischees. Was diese Linken treibt ist vor allem blanke Emotion – und darin ähneln sie den Türken und Kurden, die ihre politische Debatte mit Knüppeln und Latten austragen.

Richtige Menschen, falsche Modelle

Kluge Menschen sind klug, weil sie Modelle für die Welt haben. Die Arbeit von Wissenschaftlern, Philosophen und anderen Vollzeitdenkern besteht darin, Denkmodelle für die Phänomene der Welt zu entwickeln.

Es liegt in der Natur der Erkenntnis, dass diese nie vollkommen, immer nur vorläufig und also beständig zu verbessern ist. (Randnotiz: Die offensichtliche Dummheit und die daraus abgeleiteten katastrophal falschen Vorhersagen in der öffentlichen Debatte heute scheinen leider zu belegen, dass menschliche Erkenntnis nicht immer durchgehend weiterentwickelt wird; es gibt auch Phasen von Stagnation und sogar Rückschritt, und was wir in diesen Jahren erleben ist wohl leider so eine Phase.)

Das Leben wäre so einfach, wenn da nur nicht die ganzen anderen Leute wären! Wer einen Ball wirft, der setzt, wahrscheinlich unbewusst, die Modelle der Physiker zur Berechnung von Flugbahnen ein. Leider sind Menschen viel komplizierter als fliegende Bälle, und unsere Modelle vom Menschen können auch komplett danebenliegen. 

Ein reichlich unverständliches Denkmodell, das wir zu oft an die Welt anlegen, ist das vom »völlig rationalen Menschen«. Weil der Mensch in Wahrheit so kompliziert ist, gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass der andere Mensch stets zu seinem Vorteil handelt, und dass er das klug und vernünftig angeht, Zusammenhänge und Wirkung bedenkend. (Wenn wir sogenannte »Gutmenschen« sind, gehen wir zusätzlich davon aus, dass jeder Fremde auch ethisch gut und stets wohlgesonnen ist – und wenn wir sogenannte »Linksgrüne« oder »Woke« sind, gehen wir davon aus, dass alle Menschen gut sind, außer die »alten weißen Männer«, welche Wissenschaft treiben, Menschen heilen, Kunst und Arbeitsplätze schaffen.)

Es kann schmerzhaft daneben gehen, wenn man davon ausgeht, dass der Mitmensch stets rational vorgeht. Es wird zugleich amüsant und tragisch, wenn man sich in der Illusion wiegt, man selbst würde stets vernünftig und zum eigenen Wohl handeln. Nein, ein Denkmodell des Menschen als durch und durch vernunftgeleitetem Wesen wäre auf fast lustige Weise falsch.

Der Mensch ist nicht (immer) rational. Zivilisation besteht ganz wesentlich darin, unsere Emotionen »in den Griff« zu bekommen, um etwas weniger irrational und gegen uns selbst zu handeln. Die Evolution hat uns unsere Gefühle zu demselben Zweck eingepflanzt, zu dem sie alles andere tat – um die Vermehrung der DNA unseres Stammes in der Savanne zu sichern. (Und wenn Ihnen das schräg vorkommt, dann liegt das daran, dass wir einem Vorgang der Natur eine Absicht zuschreiben. Die Evolution hat so viel oder wenig Absichten wie eine Kugel, die einen Abhang hinunter kullert.)

Das ist die Lage: Wir Menschen sind seit jeher zwischen Ratio und Gefühlen hin- und hergerissen. Im Projekt namens »Zivilisation« versuchen wir, die Zerrissenheit einigermaßen in den Griff zu bekommen. Skrupellose NGOs und andere wenig demokratische Kräfte reden heute den Menschen ein, dass sie wieder weniger rational denken und mehr »fühlen« sollen, womit die Bürger zum demokratie-unfähigen Spielball von NGOs und Konzernen werden. Zugleich werden Menschen ins Land eingeladen, von denen einige ihre Gefühle noch weniger zivilisationstauglich »im Griff« haben.

Nicht zu viele

Deutschland rutscht in einen hysterischen, hochemotionalen Zustand – nicht das erste Mal, wenn auch diesmal mit einer eigenen Geschmacksrichtung – wie immer eigentlich. Fakten zählen als »Hass«, wenn sie das durchzusetzende Gefühl stören. Die junge, leicht manipulierbare Masse wird von Staatsfunk und NGOs aufgewühlt. Der neue deutsche Mob kennt nur zwei Gefühle: Den dumpfen Rausch des »Wir« und die Wut auf »die«. »Wir« als die Gleichschaltenden und »die« als die Andersdenkenden, »wir sind mehr« und wer nicht »wir« ist, der ist ein »Nazi« und »Ratte« (dass die, welche alle Abweichler »Nazis« nennen, die Sprache, Denkweise und Methodik der echten Nazis übernehmen, bestätigt die These, wonach Geschichte als Farce wiederkehrt).

Ich traue den Meinungsmachern wenig koordiniertes Handeln zu, also auch definitiv keine Absicht, die öffentliche Stimmung so weit aufzuheizen, dass ein brutales und repressives Vorgehen notwendig sein wird – das heißt jedoch nicht, dass ein solches Vorgehen nicht zum Zeitpunkt X notwendig sein könnte und damit realistisch geschehen kann. Wir erleben schon heute politische Randale und Brandstiftung, Gewalt und Bandenschlägereien, während Propagandisten und Haltungsjournalisten täglich neues Öl ins Feuer gießen – welche logische Konsequenzen sollten wir denn erwarten? Ja, man wird Sie für die Antwort als »Rechts« beschimpfen – über Konsequenzen nachzudenken gilt heute als »Rechts«, der Kampf gegen Rechts ist ein Kampf gegen die Ratio – und ein Kampf für die Herrschaft der leicht zu manipulierenden Emotion.

Schützt euch vor dem aufgewühlten Mob. Schützt eure Familien vor der Emotion, die das Denken frisst und die Gemeinschaft auseinanderreißt.

Werdet nicht zu Sklaven eurer Gefühle, tötet sie nicht ab, doch lasst sie auch nicht eure Herren sein.

Die Gefühle des Menschen sind wie Pferde vor einer Kutsche – wenn der Mensch die Zügel aus der Hand gibt, werden andere Kräfte übernehmen.

Hütet euch vor den wild rasenden Kutschen, die mal hierhin und mal dorthin schwanken, wo der Kutscher betrunken die Zügel aus seinen Händen gleiten ließ. Haltet die Zügel in der Hand, jederzeit – und zwischendurch gönnt euch eine süße Dattel.

Weiterschreiben, Wegner!

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