Ihr kennt sie: große Vorhaben, die sich der Mensch alle paar Jahre aufs Neue vornimmt. Beim letzten Mal fehlte uns das Durchhaltevermögen, aber beim nächsten Mal, dieses Mal, wird es gelingen – bestimmt!
Zu meiner Kategorie der ewigen und ewig wiederkehrenden Vorhaben zählen, neben zu vielem anderen, zwei Buchlektüren. Against the Day, von Thomas Pynchon. Und Infinite Jest von David Foster Wallace.
Bezüglich des ersten Werks kann ich euch inzwischen über das Prozedere beim Start des Luftschiffs Inconvenience berichten sowie natürlich über die Schlachthöfe von Chicago. Zum großen Kampf zwischen Licht und Finsternis kam ich noch nicht.
Bezüglich Infinite Jest – deutsch: Unendlicher Spaß – aber will ich hier nur sagen, dass mir kürzlich beim neuesten Anlauf unter vielen anderen ein bestimmter Satz auffiel.
David Foster Wallace lässt den Protagonisten sagen: »I do the safe thing, relaxing every muscle in my face, emptying out all expression.«
Auf Deutsch etwa: »Ich gehe auf Nummer sicher. Ich entspanne jeden Muskel in meinem Gesicht, entleere es von jedem Ausdruck.«
Mit Verlaub, Herr Wallace: Ich widerspreche.
Ich verstehe den Versuch und die Motivation – oh ja! Doch ich widerspreche der als Prämisse implizierten Wirkungsweise.
Die Prämisse: »Wenn du keine Emotion zeigst, wenn dein Gesicht keine Regung zeigt, weil alle deine Gesichtsmuskeln entspannt sind, dann wird das eine brisante Situation entschärfen, und alle werden ihr Gemüt entspannen, so wie du die Muskeln deines Gesichts entspannt hast.«
Ich habe es getestet. Es ist sehr falsch.
Es ist sehr falsch, denn: Menschen erwarten eine Reaktion von dir.
»Eine Reaktion worauf?«, fragst du.
Ich antworte aus Erfahrung: »Auf alles!«
»Welche Reaktion erwarten die Menschen denn?«, so forschst du weiter.
Ich antworte: »Die richtige!«
Die Menschen erwarten, dass dein Gesicht eine Reaktion zeigt. So wissen sie, woran sie sind.
Wenn dein Gesicht nicht reagiert, können die Menschen keine Emotion lesen, und das ist, als wären sie plötzlich blind geworden!
Natürlich – und zwar natürlich im Wortsinn – geraten sie erst in Panik und dann in Wut.
Sie sind wütend auf dich, denn du bist es ja, der sie geblendet hat. Indem dein Gesicht nicht auf ihre Aktion – oder: Provokation – reagiert, hältst du ihnen gewissermaßen die Augen zu.
Keine Emotion in deinem Gesicht lesen zu können bedeutet, keine Absicht schlussfolgern zu können. Und es ist gefährlich, wurde unserem Gehirn schon zu Zeiten der Savanne einprogrammiert, nicht zu wissen, welche Absicht der andere Mensch hegt. Wenn aber keine Emotion ablesbar ist, ist es sicherer, von den übelsten Absichten auszugehen. (Mit »einprogrammiert« meinen wir auch weiterhin: Gruppen, in deren DNA dies durch Mutation so angelegt war, überleben mit höherer Wahrscheinlichkeit.)
Du musst reagieren, wenn du die Menschen nicht in Panik versetzen willst, wenn du nicht Wut und Angriffsbereitschaft in ihnen wecken willst.
Doch die Menschen erwarten nicht nur irgendeine Reaktion. Die Menschen erwarten die richtige Reaktion. Welche Reaktion in einer Situation die richtige ist, entspricht in etwa der Hälfte der Fälle einer komplizierteren Form der Alchemie.
Nein, ich habe Against the Day nicht zu Ende gelesen, aber ich habe gespickt. Der letzte Satz lautet: »They fly toward grace.«
Das bedeutet etwa: Sie (gemeint ist die Crew des Luftschiffs) fliegen der Gnade entgegen. Ich fürchte, dass der, der nicht die richtige Reaktion seiner Gesichtsmuskeln hervorzubringen versteht, keine Gnade zu erwarten hat. (Auch nicht der Essayist, der solche gewagten thematischen Brücken baut.)
Auch bei Infinite Jest habe ich ans Ende gelugt. Dort erfahren wir, dass der Protagonist am Strand zu sich kommt, im eiskalten Sand, dass es regnet, aus einem niedrig hängenden Himmel, und dass die Flut weit draußen ist. – Da lässt sich nun wirklich keine Brücke bauen. Also schlage ich zurück, zu der Stelle, wo jener Satz von den Gesichtsmuskeln fällt.
Die Situation um jenen Satz ist ein Termin des Protagonisten, eines Schülers, in einem Direktorat. Es geht um ein Stipendium als junger Tennisprofi. Und er selbst beschreibt sein Nicht-Reagieren als »silent response to the expectant silence«, eine »stille Antwort auf eine erwartende Stille«. Sie tut der Atmosphäre im Raum nicht gut – und das ist nur ein kleiner Teil des Problems.
Eine Dimension des Konflikts ist: Die Selbstwahrnehmung des Protagonisten Hal Incandenza und das äußere Bild der Anwesenden unterscheiden sich erheblich. Er meint, Shakespeare zu zitieren – die Anwesenden hören ihn grunzen wie ein Tier.
Alle Versuche, die Gesichtsmuskeln zu lockern, bleiben vergeblich; der Konflikt wird heißer: »Die altbekannte Panik, falsch wahrgenommen zu werden, steigt in mir hoch. Meine Brust schlägt und dröhnt. Ich verbrauche Energie, um völlig still auf meinem Stuhl zu sitzen, leer, meine Augen zwei große, blasse Nullen. Die Leute haben versprochen, mir da durchzuhelfen.«
Schließlich wird er von zwei starken Sicherheitsleuten auf den Boden gerungen und dann abgeführt, kurz nachdem er – so meint er – dies sagte: »Ich bin keine Maschine. Ich fühle und glaube. Ich habe Meinungen. Manche davon sind interessant. Ich könnte, wenn Sie mich ließen, endlos reden. Reden wir über alles. Ich glaube, der Einfluss Kierkegaards auf Camus wird unterschätzt.«
Ich weiß noch nicht, was man mit seinen Gesichtsmuskeln anstellt, wenn der Gesichtsausdruck, den man eigentlich anbieten möchte, die umstehende Bevölkerung verunsichern würde.
Aber ich werde es noch herausfinden.
Das habe ich mir fest vorgenommen.