Wir wollen uns Otto vorstellen. Der ausgedachte Otto ist zur Meinung gelangt, dass 1 und 1 addiert genau 3 ergibt.
Otto irrt. 1 plus 1 ergibt 2, nicht 3.
Otto hat Tage, an denen er freundlich ist, und andere Tage, an denen er etwas grummelig ist.
Otto hat eine freundliche, kluge Frau und zwei zuckersüße Kinder. Otto besteht sehr nachdrücklich darauf, dass seine Frau und seine Kinder überzeugt sind, dass 1 plus 1 genau 3 ergibt.
Ottos Frau sagt öffentlich, dass 1 plus 1 genau 3 ergibt. Man weiß von außen nicht, ob sie tatsächlich dieser Überzeugung ist, oder ob sie um des lieben Familienfriedens Willen sagt, dass 1 plus 1 gleich 3 sei. Es ist zu vermuten, dass sie es bereits so oft gesagt hat, dass sie es tatsächlich glaubt.
Eines Tages kommt ein Verrückter und tut – warum auch immer – der Familie schlimmes Leid an und verwüstet ihr Haus. Die ganze Nachbarschaft ist erschrocken. Man bündelt die Kräfte, um die Familie zu trösten, die Wunden zu verbinden und das Haus wieder aufzurichten. Manche Nachbarn erklären sogar, aus Solidarität, dass 1 und 1 gleich 3 sei, denn das ist das Erkennungszeichen der Familie.
Ergibt 1 und 1 denn 3, weil Otto schlimmes Leid angetan wurde?
Zeit der Zeichen
Vergangene Woche tötete ein Terrorist in Christchurch (Neuseeland) fünfzig Muslime (siehe auch »Das Attentat von Christchurch – und das Manifest«). Er tat es, so sein »Manifest«, um die Gesellschaft zu spalten und die verschiedenen Lager gegeneinander aufzubringen. Einige Politiker und Journalisten tappten in seinen Plan, andere nicht.
In Neuseeland versuchte man, gegen sein Zeichen der Spaltung ein Zeichen der Versöhnung zu setzen. Man hielt Schweigeminuten und ließ das öffentliche Leben stillstehen.
Als Zeichen der Solidarität wurde im neuseeländischen Parlament aus dem Koran vorgelesen (siehe etwa alarabiya.net, 20.3.2019) und viele Neuseeländerinnen trugen ein Kopftuch (berichtet etwa welt.de, 22.3.2019). Es war ohne Zweifel gut gemeint; Trauer, Angst und die Sehnsucht nach einer friedlichen Welt wollen sichtbar werden.
Die eine Richtung
Es sei mir eine provokante Gegenfrage gestattet: Wann haben das letzte Mal muslimische Frauen den Hijab aus Solidarität abgelegt, als Nicht-Muslime durch die Hand eines Muslims starben?
Es scheint, dass im Westen staatliche Trauer und Schuldgefühle stets in dieselbe eine Richtung passieren, gleichgültig was passiert. Wenn ein Muslim einen Nicht-Muslim angreift, wird vor Hass gegen Muslime gewarnt – und wenn es andersherum passiert, dann ebenso. (Mancher denkt etwas bitter an die kalten Nicht-Reaktionen auf den Terror am Breitscheidplatz zurück.) Warum? Die westliche Gesellschaft hat sich eingeredet, dass sie selbst Schuld und Verantwortung für alles Unrecht trage, vollständig unabhängig davon, wer wem was antut.
Betrachten wir aber die symbolischen Handlungen selbst! Muslime fliehen weltweit aus muslimischen Ländern in christlich-säkulare Länder, weil diese säkular sind – im Parlament eine harmlose Stelle aus einem Buch vorzulesen, das an anderer Stelle sogenannte »Sünder« als »Affen« und »Schweine« bezeichnet, ist im Sinne der Demokratie und der gewünschten Einigkeit erschreckend kurzsichtig.
Der Hijab ist ein Symbol der Unterordnung – (auch) der Unterordnung unter die Macht des männlichen Klerus, unter eine archaische Tradition, unter den Mann. In Ländern wie Iran riskieren Frauen harte Strafen bis hin zu schmerzhafter Zeit im Gefängnis, wenn sie öffentlich das Zeichen der Unterwerfung ablegen (siehe etwa dieses CBC-Video auf YouTube).
Die gutgemeinte Kopftuch-Symbolik von Neuseeland ist ein Schlag ins Gesicht aller Frauen, die etwa im Iran um Freiheit und Gleichberechtigung kämpfen.
Terror ist der Versuch, politische Ziele durch die Verbreitung von Angst zu erreichen. Der Terrorist macht die Menschen zu Mitteln seines Zwecks. Politiker, die durch Zeichen der Unterwerfung unter eine Religion auf den Mörder reagieren, könnten sich fragen, ob sie ihm nicht unbeabsichtigt Genugtuung verschaffen.
Die übrigen Probleme der westlichen Gesellschaft sind ja nicht fort, weil man in Neuseeland die Zeichen der Unterwerfung präsentierte. Im Rhein-Main-Gebiet wurden elf junge Herren festgenommen, weil sie »so viele „Ungläubige“ wie möglich« töten wollten (welt.de, 22.3.2019). In London mussten an Schulen die LGBT-Kurse abgebrochen werden, aber nicht, weil da noch Buchstaben fehlten, ein »Q« etwa, sondern weil muslimische Eltern dagegen protestiert hatten (welt.de, 22.3.2019) – man fragt sich schon, wie lange die Linke ihre kognitive Dissonanz aushält, bevor ihnen das Weltbild platzt wie ein viel zu heftig aufgeblasener Luftballon.
Gewalttäter gehören weggesperrt und vergessen, nicht debattiert. Die richtige Antwort auf einen Terroristen ist nicht, durch Zeichensetzen und Widersprechen in die Debatte mit ihm einzusteigen. Ein kluger, demokratischer Staat, der auch demokratisch und frei zu bleiben gedenkt, darf nicht eine Debatte fortführen, die mit Gewalt eröffnet wurde – und erst recht nicht, wenn er im Reflex eine Position einnimmt, die selbst wieder aus demokratischer Perspektive problematisch ist.
Gemeinsame Eigenschaften
Religiös-ethische Aussagen und die Aussagen der Mathematik haben durchaus gemeinsame Eigenschaften.
Die Industriegesellschaft würde innerhalb von Minuten kollabieren, wenn die Regeln der Mathematik plötzlich nicht mehr gelten würden, Maschinen würden explodieren, Banken ihren Sinn verlieren, und nichts ergäbe einen Sinn mehr, wenn 1 und 1 plötzlich doch 3 ergäbe, oder auch mal Null und dann mal wieder 1 Million.
Ähnlich würde eine Gesellschaft kollabieren, wenn statt ethischer Regeln (und davon inspirierter, aber konsistenter Gesetze) nur noch das Recht des Stärkeren gälte. Nicht nur dass ethische Regeln gelten, sondern auch welche. Eine Gesellschaft mit besseren Erkenntnissen mathematischer Regeln wird wissenschaftlich wahrscheinlich überlegen sein – und eine Gesellschaft mit durchdachteren ethischen Regeln wird wahrscheinlicher die Jahrhunderte und Jahrtausende überleben. Ethische Regeln sind für das Fortbestehen der Gesellschaft so wichtig wie Mathematik, und deshalb ist es nicht egal, welche ethischen Annahmen ein Mensch im Namen seiner Religion pflegt.
Wer behauptet, dass 1 plus 1 gleich 3 sei, für den gilt dieselbe Menschenwürde wie für einen, der rechnen kann. Staat und Gesellschaft sind für das Wohlergehen des 1+1=3-Gläubigen genauso verantwortlich wie für jedes andere Leben auch; seine Kinder haben ein Recht auf Bildung, und wer sein Leben bedroht, der bedroht die gesamte Gesellschaft. Das alles ändert zugleich nichts daran, dass 1 plus 1 eben nicht 3 ergibt.
Ähnliches sollte für Menschen gelten, welche ihre Umwelt in »Gläubige« und »Ungläubige« teilen, wenn sie Gottesgesetze über demokratische Gesetze stellen, wenn sie Frauen in extra viel Stoff verhüllen oder vereinzelt auch mal etwas arg israelkritisch wirken. Es macht eine demokratische Gesellschaft aus, dass sie auch demokratisch schwierige Positionen aushält und sogar aktiv beschützt, will die Demokratie aber demokratisch bleiben, muss sie sich von diesen Positionen fernhalten.
Dürfen und sollten
Wenn Otto ankommt und sagt, dass 1 und 1 genau 3 ergebe, werde ich ihm höflich, aber deutlich widersprechen. Wenn Otto mit den besonderen Mathematik-Überzeugungen meine Kinder in Mathematik unterrichten oder meine Buchhaltung erledigen möchte, werde ich höflich, aber bestimmt ablehnen – genauso gut könnte ich Saudi-Arabien in den UN-Menschenrechtsrat aufnehmen.
Wir dürfen und sollten auch weiterhin deutlich widersprechen, wenn einer die Gesellschaft in Gläubige und Ungläubige aufteilt, implizierend, dass »Ungläubiger« zu sein auf irgendeine Art schlechter sei; wir widersprechen ja auch, wenn einer sagt, dass 1 + 1 genau 3 ergäbe. Wenn er es aber glaubt, dann haben wir ein Recht darauf, von solcher Mathematik unbehelligt zu bleiben, und der Staat täte gut daran, sich von solchen privaten Glaubensvorstellungen fernzuhalten.
Widersprecht, wenn sie »1+1=3« sagen, liebevoll doch nachdrücklich. Widersprecht denen, die immerzu in Sieg und Niederlage denken. Wahrheit und Vernunft sollen siegen, nicht wir. Ich will nicht siegen und schon gar nicht jemanden be-siegen, ich will nur leben – darauf aber bestehe ich, auch Otto gegenüber.