Dushan-Wegner

19.05.2019

Erinnerungsverbrechen – jetzt neu! (oder auch nicht)

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Bild von Daniele Levis Pelusi
Grüne sagen, ihre Gegner wollten zurück in eine »Vergangenheit, die es nie gab«. Was aber, wenn ich mich selbst an diese erinnere?! Auf die Gedankenverbrechen (»Hate Speech«) folgt nun, so steht zu fürchten, das »Erinnerungsverbrechen« (»Hate Memory«).
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»Aber es hat existiert! Es existiert! Es existiert in meiner Erinnerung! Ich erinnere mich daran. Sie erinnern sich daran.«

»Ich erinnere mich nicht daran«, sagte O’Brien.

Winstons Herz sank. Das war Doppeldenk.

– Sie haben es, liebe Leser, gewiss gemerkt, spätestens bei der Erwähnung von Winston und Doppeldenk (englisch: doublethink): ich zitiere 1984, wieder einmal. Es hat seinen Grund; das Drehbuch zum EU-Wahlkampf könnte von Orwell geschrieben sein.

Über einen Kuhfladen

Die Guten, pardon: die Grünen erklären aktuell, via Twitter:

Bei dieser Wahl entscheiden wir über die Richtung, die Europa einschlägt. Zurück in eine Vergangenheit, die es nie gab. Oder vorwärts für ein ökologisches, soziales und demokratisches Europa. ???????? #klimaschutzWählen #ZusammenhaltWählen – im Bild dann: »Wir wehren uns gegen Rechts. Wir verteidigen die Menschenrechte. Überall auf der Welt – und vor der eigenen Haustür.« Ska Keller; Am 26. Mai GRÜN wählen! (@die_gruenen, 18.5.2019)

In und mit dieser Aussagensammlung ist so viel falsch, dass man eine ganze Doktorarbeit darüber schreiben könnte, und zwar eine richtige, nicht so eine Politiker-Doktorarbeit – aber gut, das kann man auch über einen Kuhfladen (»Der Kuhfladen als Lebensgemeinschaft, Uni Zürich 2010), und der ist im Gegensatz zu jenem menschengemachten Dreck zumindest tatsächlich und nicht nur pseudo-ökologisch. Man könnte etwa fragen, ob in seiner politischen Gesinnung rechts von den Grünen zu sein, also etwa nur moderat links, nicht auch ein »Menschenrecht« sei, oder ob Europa laut den Grünen bislang denn nicht demokratisch sei, und so weiter, doch mit Grünen logisch zu argumentieren führt schnell zum Kategorienfehler.

Ich darf Ihre und unsere Aufmerksamkeit auf den zweiten Satz lenken, dessen Hauptsatz das finite Verb fehlt, was ihm eine atemlose Selbstverständlichkeit verleiht. – Ich will, entgegen der vermuteten rhetorischen Absicht der Formulierer, hier innehalten, und ich frage: Einen Moment bitte, liebe Freunde von Gleichschritt und Haltung, was meinen Sie mit »Vergangenheit, die es nie gab«?

… sagt der Grüne Bruder

Es wäre an dieser Stelle müßig, aufs Neue zu erörtern, was im linksgrünen Weltbild das Angriffswort »Rechts« bedeutet – es ist Code für jeden, der über sein Schicksal selbst bestimmen will und damit linksgrün-globalistischen Totalitarismus in Frage stellt – so weit, so bekannt.

Neu ist aber – zumindest mir erscheint es neu – die wie aus Orwells 1984 kopiert wirkende Behauptung, die Vergangenheit, an die Sie und ich uns noch erinnern, habe es nie gegeben.

Die Parks und Plätze, wo ich als Kind sicher spielen konnte, und heute eben nicht mehr? Hat es nie gegeben, sagt der Grüne Bruder.

Schulen, in denen die Lehrer nicht nervös prüfen mussten, ob Schüler nicht Messer dabeihaben? Hat es nie gegeben, sagt der Grüne Bruder.

Geschützte Grenzen? Hat es nie gegeben, sagt der Grüne Bruder. Ein Asylsystem, in dem der Ehrliche im Vorteil war, und nicht der, der einfach den Pass wegwarf? Hat es nie gegeben, sagt der Grüne Bruder. Eine Zeit ohne tägliche Meldungen von Messerstechereien, Angriffen auf Beamte oder Clangewalt? Hat es alles nie gegeben, sagt der Grüne Bruder.

Das Deutschland, an das ich mich erinnere, in das hinein wir unsere Kinder brachten, das Deutschland, das den Deutschen zwischen den Fingern verrinnt, das hat es nie gegeben, so sagt der Grüne Bruder – und demnächst wird es wohl auch dessen milliardenschwere Presseabteilung verkünden: Die Vergangenheit, an die du dich erinnerst, die hat es nicht gegeben.

Denken Sie, Ihnen droht nicht Ähnliches wie Strache? Passen Sie auf, mit wem Sie feiern gehen! Der Gutmensch filmt mit, und er wird Sie fertigmachen, wenn Sie ihm im Weg stehen, und sei es Jahre später!

Wir sind schon längst im Gebiet der Gedankenverbrechen angekommen. Was nun folgt, ist das Erinnerungsverbrechen.

»Ja.«

»Schau mir in die Augen. Mit welchem Land befindet sich Ozeanien im Krieg?«

Winston dachte nach. Er wusste, was mit Ozeanien gemeint war, und dass er ein Bürger Ozeaniens war. Er erinnerte sich auch an Eurasien und Ostasien; aber wer mit wem im Krieg war, das wusste er nicht. Genau genommen hatte er nicht einmal gewusst, dass da ein Krieg war.

»Ich erinnere mich nicht.«

»Ozeanien befindet sich im Krieg mit Ostasien. Erinnerst du dich nun«?

»Ja.«

»Ozeanien war immer schon im Krieg mit Ostasien. Seit dem Beginn der Zeiten, seit der Gründung der Partei, seit dem Anfang der Geschichte, der Krieg hat angedauert, immer derselbe Krieg. Erinnerst du dich daran?»

»Ja.«

– Heute würde Orwell formulieren: Du erinnerst dich, dass Europa schon immer im Kampf gegen Rechts war. Du erinnerst dich daran, dass der Islam schon immer friedlich war – seit 2000 Jahren schon (Timmermans). Du erinnerst dich, dass die Nazis die Dresdner Frauenkirche zerstörten (Göring-Eckardt) und wie Deutschland nach dem Krieg von den Türken wiederaufgebaut wurde (Gabriel).

Die Gedanken sind nicht mehr frei, wenn du es bleiben wirst, warum sollten es die Erinnerungen sein?

Ich erinnere mich

Die Motivationen von Linksgrünen und Nicht-Linken sind asymmetrisch. Die wollen Macht, wir wollen einfach nur unser Leben leben.

(Das erklärt, unter anderem, auch die krassen Bildungsunterschiede zwischen den politischen Lagern – die machen nicht selten Politik, weil sie nichts anderes können, die anderen machen Politik oft aus Notwehr, weil sie etwas zu verlieren haben – Haltungsparteien und NGOs sind ja der letzte verbliebene Markt für abgebrochene Studenten, die wenig außer »Haltung« feilzubieten haben.)

Selbst Orwell hätte sich nicht albträumen lassen, wie einfach es werden würde, seine Dystopie einzuschienen. Hatte er mit Leuten gerechnet, die tatsächlich wenig mehr außer Macht wollen – und können?

Wir ahnen, was nach NetzDG und den »Anti-Hatespeech-Maßnahmen« aus Brüssel, sprich: der digitalen Gedankenüberwachung, kommen wird. – Zum Tatbestand des Gedankenverbrechens wird sich sehr bald das Erinnerungsverbrechen gesellen. (Von einem Wahrheitsministerium träumen manche von denen nicht erst seit dem Migrationspakt.)

Ich erinnere mich, wie ich buchstäblich jahrzehntelang Silvester in der Kölner Innenstadt feierte, mit Freunden, auch um den Dom herum und auf den Brücken sowieso – bald ein Erinnerungsverbrechen, befürchte ich. Ich erinnere mich an Spaziergänge an der Seine und einen Eiffelturm ohne Glasmauern, ich erinnere mich an  Weihnachtsmärkte ohne Anti-LKW-Schutz, ich erinnere mich an Politiker, die ihre Sinne beisammen hatten, und an Journalisten, die uns die Welt beschrieben, wie sie war. Ich erinnere mich an Hoffnung und die realistische Aussicht, dass das Leben der Kinder besser werden würde als das der Eltern, wenn sie nur fleißig wären – all dies sind bald Erinnerungsverbrechen.

Sei’s drum.

Der »Doppeldenk« (doublethink) aus Orwells 1984 ist ein Denken in Widersprüchen. Der Parteiapparat muss an die eigene Unfehlbarkeit glauben und doch auf seine Weise aus Fehlern lernen, die Beamten müssen in der Lage sein, die Wahrheit inklusive der erinnerten Geschichte nach Tagesparole anzupassen, und dann sofort an die neue Version zu glauben.

Der in Doppeldenk geübte Parteisoldat ist in der Lage, widersprüchliche Aussagen gleichzeitig aufrechtzuerhalten.

Linksgrüne Weltsicht ist eine große Übung in Doppeldenk (Intoleranz ist Toleranz, Gleichschaltung ist Diversität, Frauenunterdrückung ist Feminismus, Vogelmord ist Umweltschutz, et cetera).

Ohne realen Doppeldenk lassen sich viele Aspekte linksgrünen Denkens schlicht nicht »verstehen«. Als Wahrheit gilt, was politisch gewünscht ist, nicht was die Realität beschreibt. Doch, all das bezog sich bislang auf Meinungen und die Gegenwart – der Grüne Bruder wird bald die nächste Stufe angehen: die politisch korrekte Erinnerung.

Nein, ich glaube nicht, dass es die Vergangenheit, die ich erlebte, deren Beweisfotos ich noch habe, »nie gab«. (Verraten Sie es nicht den Grünen, aber in einigen der Länder, von denen es bei der Eurovision 2019 null Publikumspunkte für Deutschland gab, gibt es Teile dieser Vergangenheit noch, und sie kämpfen erbittert darum, bewahren zu dürfen, wofür ihre Väter arbeiteten, kämpften und gelegentlich auch starben.)

Mit Winston aus 1984 rufe ich aus: Aber es hat existiert! Es existiert! Es existiert in meiner Erinnerung!

Ja, ich war dort. Ich erinnere mich, ich bestehe darauf, dass ich mich erinnere – und ich glaube nicht einmal, dass eine Renaissance ganz ausgeschlossen ist. Einiges – nicht alles – vom Guten könnte wiederkommen, könnte gerettet und doch noch bewahrt werden, solange nicht alle die Erinnerung aufgeben, solange nicht alle dem doppelpluslinken Doppeldenken nachgeben.

Ja ich erinnere mich gut. Ich weigere mich, zu vergessen. Bin ich ein Erinnerungsverbrecher? Sei’s drum.

Weiterschreiben, Wegner!

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