Diogenes war ein Philosoph der griechischen Antike, und der Legende nach lebte er in einem Fass. Diogenes war extra bescheiden, wobei Bescheidenheit hier auf keinen Fall mit Schüchternheit verwechselt werden sollte.
Diogenes bettelte auf dem Markt und suchte Essen auf dem Boden zusammen. Er aß öffentlich, was damals als unschicklich galt. Und er tat noch ganz andere Dinge öffentlich, die man bis heute, je nach Land, unschicklich finden könnte.
Und doch galt er als Philosoph. Es gibt keine überlieferten Texte, die sicher Diogenes zugeschrieben werden können. Seine Zeitgenossen berichten jedoch Anekdoten über »Diogenes den Hund« in ihren eigenen Texten.
(Er bezeichnete sich selbst als Hund, nachdem er derart beschimpft worden war. Es ist der wohl erste bekannte Fall eines »Geusenworts«, also eines Schimpfwortes, das der Bezeichnete selbstbewusst übernimmt. Das heutige Wort »Zyniker« ist übrigens mit dem altgriechischen Wort für »Hund« verwandt.)
In einer der Anekdoten erleben die amüsierten Passanten, wie Diogenes gestikulierend eine steinerne Statue anbettelt.
Man fragt den Philosophen, was seine Absicht dabei sei, die Statue anzubetteln, und dieser erklärt: »Ich übe mich darin, zurückgewiesen zu werden.«
In der Sprache des modernen Business können wir sagen: Diogenes wollte eine »Baseline« für seine persönliche Erwartungshaltung setzen.
Wie viel soll ein Mensch von seinen Mitmenschen erwarten? Die Antwort des »Hundes« Diogenes ist: Nichts. Nada. Null.
Wir haben alle schon mal diese nervigen Zeitgenossen erlebt, deren zweiter Vorname »Erwartungshaltung« heißen sollte. Es sind Menschen, die immerzu Forderungen an ihre Umgebung stellen. (Politisch fühlen sich solche Leute entsprechend oft zu Parteien und Politikern hingezogen, die ebenfalls immerzu fordern, fordern und nochmal fordern.)
Diese Leute bedienen sich eines psychologischen Tricks, selbst wenn sie es nur intuitiv und unbewusst tun: Die meisten Menschen sind ihren Mitmenschen gegenüber wohlwollend gesinnt. Man will Erwartungen erfüllen, der Gemeinschaft wegen. Da wir aber von einer konstruktiven Gesinnung des Gegenübers ausgehen, könnten wir dem Irrtum verfallen, dass es tatsächlich möglich ist, einen »Fordernden« zufriedenzustellen.
Die Erwartungshaltung gehört zu jener Gattung von Appetiten, die umso aggressiver werden, umso mehr man sie füttert.
Wenn die unbegründete Erwartung erfüllt wird, mag sich kurzfristig eine gewisse Befriedigung einstellen, ein kurzfristiger Hormonschub. Das Empfangen des Geschenkes wird aber zur neuen Baseline. Der »Erwartende« hat gelernt, dass unbegründetes Fordern funktioniert, dass es einen kleinen emotionalen Kick verschafft, dass es ab jetzt regelmäßig zu liefern ist, aber keinen neuen Kick verschafft, weshalb er nun neue, größere Forderungen aufstellen muss.
Der Fordernde wird immer unglücklich sein. Wenn seine Forderung nicht erfüllt werden kann, wird er uns dafür verantwortlich machen, dass er unglücklich ist. Wird seine Forderung aber doch erfüllt, wird er sich bald neue Forderungen ausdenken, im besten Fall darauf hoffend, dass die Erfüllung seiner nächsten Forderung ihn glücklich machen wird.
Der an Erwartungshaltung leidende Mensch ist wie ein Kind, das mit den Eltern im Spielzeugladen unterwegs ist. Noch während das erquängelte Spielzeug im Einkaufswagen liegt, ist die Freude daran bereits verpufft.
Wir wissen, was Menschen glücklich macht: Hindernisse zu überwinden und die persönlichen relevanten Strukturen in Ordnung zu bringen. Sein Leben selbst zu gestalten. Wie man früher sagte und heute wieder sagen sollte: Glück, das ist der Schlaf des Gerechten nach einem Tagwerk ehrlicher Arbeit.
Gesellschaftlich betrachtet ist fordernde Erwartungshaltung aber ein ernsthaftes moralisches Problem.
»Was, wenn das jeder so machen würde?«, so könnte man fragen – und die Antwort lautet: »Dann würde die Gesellschaft kollabieren. – Wir kennen ja gewisse Stadtteile und Straßenzüge, etwa in Berlin, wo extra viel Erwartungshaltung in der Luft liegt.«
Die Erwartungshaltung macht aber nicht nur die Struktur »Gesellschaft« kaputt – sie ist auch verheerend für die Psyche des Einzelnen.
Ich sage: Mehr Diogenes wagen! Weniger Erwartungshaltung macht den Menschen tatsächlich glücklicher.
Ich will selbst immer wieder diesen Gedanken üben: Niemand schuldet mir etwas.
Ob ich selbst anderen Menschen etwas schulde, welche Menschen das konkret sein könnten, und was es sein sollte, das ich denen schulde, all dies zusammen ist ein anderes Thema, das an anderer Stelle behandelt wird. Für jetzt will ich den Gedanken üben, nichts zu erwarten.
Meine Erwartungshaltung abzulegen, hat einen sehr wohltuenden Nutzen. Nicht in Ansprüchen und Forderungen zu denken, kann meine Lebensqualität auf eine neue Ebene heben, und das Stichwort ist »Dankbarkeit«.
Wer immerzu erwartet und fordert, der wird die Leistungen und Geschenke seiner Mitwelt als Selbstverständlichkeit abhaken.
Wer dagegen bittet oder vorab eine Gegenleistung anbietet, dabei aber weder erwartet noch fordert, der kann doch gar nicht anders, als für jedes Geschenk echte Dankbarkeit zu empfinden.
Ich will mich darin üben, weniger zu erwarten, und mehr zu geben. Ich will meinen Wert daran messen, wie viel ich meinen Mitmenschen gegeben habe. Wo ich aber bekomme, will ich dankbar sein.
Die Menschen, die sich in der unglücklichen Spirale der ewigen Erwartungshaltung verheddert haben, die etwas wollen, ohne etwas zu leisten, sie sind erfahrungsgemäß nicht sinnvoll ansprechbar, nicht in dieser Sache und auch nicht in anderen Fehlschlüssen. Ich erlaube mir, ganz bewusst, Menschen mit allzu viel Erwartungshaltung »loszulassen«. Nein, ich bin nicht für deren Glückszustand verantwortlich.
Ich will mich in Dankbarkeit üben. Den Geist der Forderung, der Erwartung, dieser modernen Haltung der ewigen Unzufriedenheit, den will ich ganz entspannt loslassen.