Dushan-Wegner

09.09.2022

Es ist, wie es ist

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Lenstravelier
Uns wird beigebracht, Dinge »positiv zu sehen«. Wer Dinge nicht »positiv sieht«, der gilt als Spielverderber. Wenn es mit Geisteskraft allein nicht klappt, gibt es ja noch immer Alkohol. Was aber, wenn Politik nicht einmal im Suff zu ertragen ist?
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Wenn ein Rollstuhlfahrer versuchen wollte, seine Lage »positiv zu sehen«, dann könnte er sagen: »Immerhin habe ich überall, wohin ich rolle, einen Sitzplatz!«

Wenn einer aus dem Fenster fällt, dann kann auch er es »positiv sehen«: Wie unverstellt die Aussicht von außerhalb des Hochhauses doch wirkt! Wie erfrischend die Luft in den Haaren weht, während du steil in Richtung Asphalt fliegst! – Wir kennen ja alle den Scherz, wonach der Fallende am ersten Stockwerk noch gutgelaunt ruft: »Bis hierher ist alles gut gegangen!«

Der Automatismus der Pflicht zum positiven Denken ist ja längst zum Witz geworden! Denken wir etwa an den peinlichen Rücktritt eines Funktionärs (vor allem früher, als Politiker noch Scham kannten), der dann »positiv« verkündet, er wolle »ab sofort mehr Zeit mit der Familie verbringen«.

Und ein zwanghafter Optimist könnte an jedem beliebigen Tag in diesen verheerenden Merkel-Scholz-Jahren sagen: »Man muss das positiv sehen – es kann nicht schlimmer kommen!« (Wir seufzen, denn wir ahnen, dass der jeweils nächste Monat ihn widerlegen wird.)

Den Geist lenken

»Positiv sehen, du musst das positiv sehen« – ach, wie zuwider mir diese Formulierung doch über die Jahre wurde! (Dass mir der Zwang zur Positivität zuwider ist, bedeutet nicht, dass ich mich nicht schuldig gemacht hätte.)

Ein Ding ist positiv, also gut oder nützlich aus meiner Perspektive, oder ein Ding ist negativ, also schlecht oder böse aus meiner Perspektive.

Sie wissen schon, »Relevante Strukturen« und so: »Positiv« bedeutet, dass es eine mir relevante Struktur stützt. »Negativ« bedeutet eben, dass es sie »schwächt«.

»Positiv sehen« könnte bedeuten, dass eine Veränderung zwar einige relevante Strukturen schwächt, die willst du aber ignorieren, während sie andere stärkt, auf die du deine Aufmerksamkeit lenken willst.

Eine Sache »positiv zu sehen« bedeutet, seinen Geist auf die stärkenden Aspekte zu lenken und sich selbst zu zwingen, die schwächelnden Aspekte nicht zu sehen.

Stellenweise ungewöhnlich

Ich erkenne in diesen Tagen ein Phänomen, das ich als »die neue Ehrlichkeit« beschrieben habe. Politiker und Institutionen verstellen sich nicht mehr.

Unsere Gegenwart ist aktuell geprägt vom Versagen der Scholz-Minister. Außenministerin Baerbock etwa schien zu viel Ehrlichkeit bezüglich ihrer relevanten Strukturen zu offenbaren (Essay vom 2.9.2022). Die rote Innenministerin tut kaum noch so, als würde sie eine andere Gefahr als »Rechtsextremismus« wahrnehmen, und womöglich ist ihr die Frage nicht superwichtig, ob die »rechtsextremen« Taten echt sind oder fake (Essay vom 2.9.2022).

Der grüne Kinderbuchautor und heutige Wirtschaftsminister blamierte sich diese Woche wieder einmal mit Mangel an simplen Grundkenntnissen zu Fragen wie dem Wesen einer Insolvenz (Essay vom 7.9.2022).

Es ist nicht das erste Mal, dass Habeck durch selbstbewusst vorgetragene Ahnungslosigkeit auffällt (siehe auch Essay »Immunität durch Schamlosigkeit« vom 4.8.2020).

Und auch sein neuester »Vorschlag zur Netzreserve« ist »unseriös«, wie Experten kommentieren (berliner-zeitung.de, 8.9.2022): »Man fragt sich, ob der Vorschlag bewusst so konstruiert wurde, um eine Absage zu provozieren.«

Im Essay »Wie Trump mit oberflächlich falschen Fakten die Medien austrickst« vom 22.6.2018 beschrieb ich, wie ein Politiker vermeintliche »Fehler« zu seinem Vorteil einsetzen kann. Auf seine eigene Art stößt Habeck in Trump-Dimensionen vor: Was er sagt und tut, das wirkt stellenweise derart »ungewöhnlich« (um es sehr höflich auszudrücken), dass man nicht umhin kann, als Theorien zu entwickeln, welche heimliche Taktik dahinterstecken könnte.

Okay, es wird gewisse grüne Propagandisten in Ministerien und Redaktionen geben, die all das Versagen »positiv sehen« wollen. Die werden dafür bezahlt.

Der Rest von uns aber fragt sich: Diese Leute machen ganz offensichtlich das Land kaputt, täglich schneller, täglich dreister – wie bitte soll man sich das noch schönreden, was daran soll man vor sich selbst glaubwürdig »positiv sehen«?

Buchstäbliches Gebräu

Menschen finden sich seit Jahrtausenden in Situationen wieder, in denen sie sich gezwungen fühlten, Dinge »positiv zu sehen«, einfach um durchzuhalten.

Irgendwer hat irgendwann mal Traubensaft zu lange in einem verschlossenen Glas stehen gelassen. Oder jemand ließ einen Krug mit Getreide im Regen stehen, und dieses begann zu gären. Und dann probierte jemand das buchstäbliche Gebräu, und es hob die Laune auf überraschende Weise.

Oder es waren tatsächlich höhere Mächte, die dem Menschen den Wein und das Bier gaben, auf dass er seine missliche Lage »positiv sehen« möge. Die Bibel klingt hierzu recht unzweideutig:

Gebt Bier denen, die am Umkommen sind, und Wein den betrübten Seelen, dass sie trinken und ihres Elends vergessen und ihres Unglücks nicht mehr gedenken. (Sprüche 31:6f )

Ob Könige und Händler von damals, oder die Politik und die sie treibenden Konzerne von heute, die Mächtigen haben ein Interesse daran, dass Bürger ihre eigene Lage »positiv sehen«. Deshalb verkünden Politik und Propaganda hohle Durchhalteparolen wie »Wir schaffen das« oder »Du wirst nichts besitzen und so glücklich sein wie nie«. Deshalb lenken sie das Volk von seinem Leid ab, etwa mit Ersatzkriegen wie Gladiatorenkämpfen oder Fußballspielen. Und deshalb sichern erfolgreiche Systeme wie der westliche Kapitalismus (oder bereits der Bau der Pyramiden) den Arbeitern eine maßvolle Versorgung mit Positivitäts-Drogen wie Alkohol (oder heutzutage auch Psychopharmaka).

Deutschland ist an einem Punkt angelangt, so raunt es in der Republik, da lässt sich auch mit chemischen Hilfsmitteln nicht mehr so einfach »positiv denken«.

Oder, kürzer: Diese Politik lässt sich nicht mehr »schöntrinken«.

Der Rollstuhlfahrer Deutschland erfreut sich nicht mehr nur an einem dauernden Sitzplatz in der Geschichte – dieser Rollstuhlfahrer rollt auf den Abgrund zu. Dieser Fensterspringer fällt in Richtung Asphalt.

Ein Rollstuhlfahrer allerdings weiß, dass er im Rollstuhl sitzt, und er weiß recht genau, wohin er gerade rollt.

Deutschland mag noch immer die größte Exportnation in Europa sein, doch die Richtung, in welche es sich bewegt, intellektuell und wirtschaftlich, lässt sich nicht mehr schönreden.

Es ist, wie es ist.

Die-da-oben machen sich ehrlich – wir sollten es auch tun.

Ich halte nichts von der Pflicht, Dinge »positiv zu sehen«, wenn sehr relevante Strukturen gefährdet sind.

Wie soll man es nennen, wenn Leute sich der Realität verweigern, weil sie diese nicht ertragen? Realitätsphobie? Ach, es gibt gewiss Fachbezeichnungen, doch ich überlasse dies selbstbewusst den zuständigen Experten.

Es ist wie es ist, und es wird nicht anders, wenn wir das leugnen.

Die Dinge zu negativ zu sehen, das könnte zu Hilflosigkeit führen.

Die Dinge jedoch auch dann »positiv zu sehen«, wenn sie ganz und gar nicht positiv sind, das ist tödlich, das ist der Rollstuhlfahrer, der in Richtung der Klippen rollt und sich über den Schwung freut.

Niemand wird bestreiten, dass Deutschland und die Welt drumherum derzeit tiefgreifende Umbrüche durchmachen.

Einige Dinge sind schlicht rätselhaft, wie etwa die Frage, was Scholz, Habeck, Lindner & Co. wirklich bewegt.

Darin bin ich mir aber sicher: Realistisch sehen ist besser als positiv sehen. Der Realität ist es egal, ob du die Realität positiv oder negativ deutest, solange du sie realistisch siehst.

Am Ende gewinnt die Realität, und die Realität ist weder »positiv« oder »negativ« – die Realität ist.

Weiterschreiben, Wegner!

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