27.12.2024

Du wusstest nicht, dass es der Gipfel war

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild: »Nach dem Gipfel«
Aktuelle Meldung: »Pleitewelle über Deutschland« – wir seufzen. Wenn es längere Zeit bergab geht, dann weißt du immerhin, dass das vorhin wohl der Gipfel war. Ach, hättest du ihn nur intensiver ausgekostet!
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Ich kann mich erinnern, als in Deutschland über die aktuellen Gewinner von »Jugend forscht« prominent in Funk und Fernsehen berichtet wurde. Sogar ein Harald Schmidt präsentierte sie im TV, und heute werden wir sentimental und wehmütig, wenn wir seine Show bei YouTube anschauen.

Ach, hätten wir damals nur gewusst, dass mit Schmidt, Reich-Ranicki und, ja, Gottschalk, die öffentliche deutsche Kultur fürs Erste ihren Gipfel erreicht hatte!

War Harald Schmidt wirklich so gut, und mit »gut« meinen wir: wichtig?

Schmidt amüsierte sich mal über einen Journalisten (siehe wieder YouTube), der zitierte, dass wenn die Sonne der Kultur der niedrig steht, selbst Zwerge lange Schatten werfen – nur dass jener Journalist wohl aus politisch-korrekter Feigheit nicht »Zwerge« gesagt hatte, sondern »kleine Menschen«. Und natürlich fragten wir uns, und sollten uns wohl fragen, ob er, der Herr Schmidt, womöglich ein wirklicher Großer war – oder doch nur ein Zwerg mit langem Schatten.

Indem ich solches frage, eröffne ich unabhängig von der Antwort zumindest die Möglichkeit echter Schmidtscher Größe. Dass es möglicherweise so ist, das bedeutet nach populärer Philosophie, welche implizit alles Nichtgewusste als Nichtwissbar behandelt, dass auch mindestens eine mögliche Welt existiert, in welcher Schmidt ein wirklicher Großer ist. Warum also nicht des Wohlgefühls halber davon ausgehen, dass unsere Welt hier eine solche ist?

Der Preis des Bundeskanzlers

Heutzutage kann sich jeder dieses Lego Mindstorms kaufen und im Internet einfache Anleitungen aufrufen, wie er sich daheim einen Rubik-Würfel-Löse-Roboter baut (siehe YouTube).

Als aber 1987 die beiden Schüler Daniel und Felix Scharstein einen Roboter bauten, der diese Würfel in Sekundenschnell löste, war es eine Sensation (siehe jugend-forscht.de). Die beiden Jungforscher gewannen bei Jugend forscht den 1. Preis Technik (bundesweit) und den Preis des Bundeskanzlers (Helmut Kohl).

Andere eingereichte Projekte des Jahres 1987 waren eine Latein-Lern-Software, computergesteuerte Erdbebensimulation und die computergestützte Auswertung der Bundesjugendspiele.

Ja, es wurden damals auch weniger computerzentrierte Projekte eingereicht, etwa der Arbeitssicherheitsschlüssel zum Fräserspannen, präsentiert vom 19-jährigen Yahya Eren, einem Auszubildenden bei der Thyssen Stahl AG, Duisburg. Insgesamt war 1987 aber viel Enthusiasmus für die neuen Möglichkeiten der »denkenden Maschinen« von damals zu spüren.

Wenigstens die Maschinen lernen

Der Enthusiasmus für denkenden Maschinen ist zum Glück einigen der heutigen Jugendlichen nicht abhanden gekommen!

2024 ging der 1. Preis Mathematik/Informatik (siehe jugend-forscht.de) an Alexander Reimer und Matteo Friedrich, beide vom Gymnasium Eversten in Oldenburg.

Das Projekt der beiden 16-Jährigen erforscht »Optimierungsverfahren mechanischer neuronaler Netzwerke«. Die Frage ist tatsächlich auch für uns Laien interessant: Künstliche Intelligenz »lernt«, wie wir wissen, und sie lernt meist aus großen Datensätzen. Doch wie lernt sie aus der Interaktion mit der greifbaren, »mechanischen« Welt?

Es wird noch immer gedacht, in Deutschland und von Deutschen. Jugend forscht gibt es noch immer. Wir bekommen es nur nicht ganz so laut mit.

Rollt durch Deutschland

Die Schlagzeilen in Deutschland sprechen heute weniger von neuesten Erfindungen und schlauen Jugendlichen. Die Schlagzeilen von 2024 klingen eher so: »Pleitewelle rollt durch Deutschland: Diese Traditionsfirmen kämpfen ums Überleben« (focus.de, 27.12.2024).

Ja, der DAX hat dieses Weihnachten wieder Superwerte erreicht. Doch durch die Logik internationaler Märkte spricht dies leider nicht für Deutschlands Zukunft und Wirtschaftspolitik.

Wenn eine Firma formal in Deutschland ansässig ist, aber im Ausland produziert, wenn womöglich größere Aktienpakete in ausländischer Hand sind, und wenn sie dazu auch noch »steueroptimiert« aufgestellt ist, dann kann das alles den Börsenwert ansteigen lassen – darin auch dem amerikanischen Trump-Optimismus folgend –, und doch für Deutschland, für deutsche Forschung und deutsche Arbeitnehmer weitgehend irrelevant sein.

Der erwähnte Artikel bei focus.de listet nicht nur neueste Horrormeldungen aus der deutschen Wirtschaft. Man listet auch Vorschläge zu Maßnahmen gegen die »Pleitewelle«.

»Bürokratieabbau: Weg mit den Papierbergen!«, so lesen wir. »Arbeits- und Energiekosten senken: Kostenfresser bekämpfen!« und: »Digitalisierung vorantreiben: Fit für die Zukunft!«

Ich lese diese Empfehlungen und bin ziemlich ratlos: Warum schreiben diese Journalisten das? Meinen die, dass bislang niemand in der Politik auf die Notwendigkeit dieser Schritte gekommen ist? Erwarten die, dass wer auch immer gerade Deutschland wirklich regiert, sich plötzlich an den Kopf fasst, voll dankbarer Erleichterung, weil er/es/sie bislang noch nicht darauf kamen?

Natürlich ist all das bekannt. Diese Forderungen sind das, was ich im Buch Talking Points als »Applauszeilen« beschreibe. Man sagt etwas, wovon man erwartet, dass das Publikum sich dahinter einreiht, wie hinter einem Demo-Banner, und dieses geistige Einreihen wird in Form von Applaus (oder positiven Social-Media-Reaktionen) demonstriert.

Doch Applauszeilen werden Deutschland nicht retten. Die Feststellungen der Journalisten sind offensichtlich, selbstverständlich und insgesamt so hilfreich, wie ein Arzt, der seinem Krebspatienten eröffnet, die Ursache für seine Beschwerden seien die Tumore, und es empfehle sich, keine Tumore mehr zu haben.

Der Patient wird und sollte nicht applaudieren. Er wird vielmehr verzweifelt, müde und doch wütend brummen: »Das weiß ich selbst. Doch wie sollen wir das jetzt noch anstellen, ohne dass ich dabei draufgehe?«

In Deutschland werden Selbstverständlichkeiten nicht umgesetzt, obwohl jeder um ihre Notwendigkeit weiß, weil etwas mit dem deutschen Denken auf einer tieferen Ebene nicht stimmt.

Deutschland forscht

Während ich diese Gedanken am Vormittag des 27.12.2024 schreibe, spielen die Kinder das Gesellschaftsspiel Carcassonne (ein Kartenspiel, bei dem man eine spontane Landkarte erstellt, immer wieder).

Wir schauen und hören nebenbei Aufnahmen jenes Konzerts, das Simon & Garfunkel im Jahr 1981 im Central Park, New York, gaben. Es ist auf YouTube, und jemand schrieb als Kommentar unter das Konzertvideo: »Ich war dabei! Anderer Planet, Leute! Wenn jemand vorausgesagt hätte, was bis 2024 passieren würde, dann hätte man gedacht, er sei verrückt!«

Einer der Unterschiede zwischen dem tatsächlichen Gipfel und einem Gipfel der Kultur ist jener, dass der Wanderer beim tatsächlichen Gipfel durchaus weiß, dass er dort angekommen ist. Wenn der tatsächliche Wanderer den Gipfel wieder verlässt, dann ist das ein bewusster Schritt – und er weiß, was ihn nach dem Abstieg erwartet.

Bei den metaphorischen Gipfeln hingegen begreifen wir oft erst dann, dass wir uns auf einem Gipfel befanden, wenn nicht mehr zu leugnen ist, dass es nun schon längere Zeit bergab geht. Auf dem Gipfel selbst, da nahmen wir alles als selbstverständlich, alles immer nur als Zwischenhalt auf dem Weg zu noch höheren Gipfeln, zu noch besserer Aussicht.

Zumindest zur Kenntnis

Harald Schmidt hat keine Show mehr, er ist vielmehr eine eigene wandelnde Show – mit sich selbst als imposanter, bewährter Kulisse. Die Jugend-forscht-Gewinner von heute sind die Auswanderer von morgen – so oder so wird über sie zu wenig berichtet.

Kluge Jugendliche erforschen, wie künstliche Intelligenz mit der realen Welt interagiert und wie sie daraus lernen kann.

Vielleicht, bitte, bevor diese beiden Forscher bald von OpenAI, Google oder Tesla abgeworben und ins Trumpland verschifft werden: Könnten sie vielleicht noch schnell herausfinden, wie die kollektive deutsche Intelligenz die Realität zumindest zur Kenntnis nehmen kann?

Weiterschreiben, Wegner!

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