Dushan-Wegner

14.03.2022

So frei, satt und angstfrei (wie möglich)

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Erik Mclean
Man kann einen Krieg militärisch gewinnen, ihn aber langfristig noch immer auf andere Art verlieren – etwa wenn die Menschen einfach nicht das Lebensgefühl teilen, das du ihnen anbietest.
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Sun Tzu lehrt, dass der Krieg entschieden ist, bevor er begonnen wurde. Oder, um ein eigenes Bild zu zeichnen: Der Weg einer Murmel, die du von der Spitze eines Berges kullern lässt, steht in dem Moment fest, in welchem du die Murmel dort oben fallen lässt. Dass die Sprünge der Murmel überraschend sind, beschreibt dein Nichtwissen über die Beschaffenheit des Berges im Kleinsten, nicht eine Eigenschaft der Murmel (oder eine »zufällige« Eigenschaft der Welt).


Wird Putin den Krieg in der Ukraine gewinnen? Es kommt darauf an, was man unter gewinnen und verlieren versteht. Und darauf, was man unter Ukraine versteht!

Bedeutet »gewinnen«, dass Russland einen sichere(re)n Zugriff auf die ukrainischen Gasfelder erhält? Nun, die Krim hat man ja bereits »gewonnen«, und auch bei den weiteren Gasfeldern könnte das im Sinne der Macht über Ressourcen gelingen.

Wenn zu »gewinnen« aber bedeutet, dass das Gros der Ukrainer es im Herzen akzeptiert, unter Moskauer Herrschaft zu stehen, dann bedeutet »Siegen« etwas anderes – und ein Sieg ist weniger sicher.


Nehmen wir an, ich möchte die Kontrolle über die Bewohner einer Stadt erlangen; konkret: Ich möchte Sie, als Bewohner der Stadt, zwingen, tagsüber in einem frustrierenden Job zu arbeiten und dann die freie Zeit brav in Ihren vier Wänden zu verbringen (man könnte es auch »Hausarrest« nennen).

Eine Möglichkeit, Sie zu derart gehorsamem Verhalten zu bewegen, bestünde darin, Sie gefangen zu nehmen, Sie von der Polizei zur Arbeit bringen zu lassen, Sie dort zum Arbeiten zu zwingen, Sie dann wieder nach Hause zu befördern, Sie dann daheim einzusperren und einen Polizisten vor Ihre Tür zu stellen, damit Sie ja nicht abhauen.

Die andere Möglichkeit, Sie zu solchem Gehorsam zu bewegen, besteht darin, das Pferd vom Hausarrest aus aufzuzäumen. Konkret: Man bietet Ihnen etwa ein nettes Heimkino an, dazu schnelles Internet mit Disney Plus oder HBO Max. Ganz ohne Zwang verbringen Sie Ihre Wochenenden und Abende nun daheim, und gehen also wahrscheinlich nicht demonstrieren – wozu auch, Sie sind ja zufrieden! Das Heimkino samt Internet-Dienstleistern, und überhaupt das ganze angenehme Leben muss ja finanziert werden, und also gehen Sie täglich brav zur Arbeit, und kein Polizist muss Sie hinbringen, sondern Sie fahren sich selbst, und Sie finanzieren sogar das Auto, das Sie hinbringt – inklusive der absurd hohen Steuern auf den Sprit! (Und wenn Sie brav Ihre »Pendlerpauschale« beantragen, bekommen Sie etwas davon zurück, aber fragen Sie nicht Ihren Wirtschaftsminister nach Details; spiegel.de, 23.9.2019. Der ist Kinderbuchautor und gewiss in anderen Bereichen sehr kompetent.)


Ja, ich meine, dass selbst wenn Putin die Gasfelder größtenteils unter Kontrolle bekommt, er den Krieg um die Ukraine schon verloren hatte, bevor diese »Murmel« auch nur halb den Berg herunter gekullert war.

Die Bilder, die (nach meiner Deutung) Putins eigentliche Niederlage darstellen, stammen nicht zwingend aus der Ukraine, sondern aus Moskau, und es sind nicht Bilder einer Demonstration.

McDonald’s kündigte an, fürs Erste seine 850 Filialen in Russland zu schließen – und Russen reagierten darauf bestürzt, und sie stellten sich in langen Schlangen an, buchstäblich stundenlang in der russischen Kälte frierend, um ein letztes Mal noch einen amerikanischen Hamburger zu essen (siehe etwa @nexta_tv, 8.3.2022).

Ein ähnliches Bild bot sich etwa auch bei IKEA in Russland (@olex_scherba, 3.3.2022; @prof_preobr, 3.3.2022). Kurz bevor alle Läden schlossen, deckten sich Russen (die noch genug Geld hatten) noch einmal mit Möbeln-zum-Selbstbasteln, beschichteten Pfannen, Baumwolldecken und anderen Utensilien des glücklichen Zuhauses westlicher Prägung ein.

1990 eröffnete die erste McDonald’s-Filiale in Moskau, und es war ein Zeichen von westlicher Freiheit und Neuanfang (und nein, wir starten hier keine Geschmacksdebatten). Die Schließung 2022 mag nur vorübergehend sein, die Symbolik ist jedoch greifbar.

Im Film Lord of War sagt der Protagonist Yuri: »Since the end of the Cold War, the Kalashnikov has become the Russian peoples‘ greatest export – after that comes vodka and suicidal novelists.« – zu Deutsch etwa: »Seit dem Ende des Kalten Krieges wurde die Kalashnikov zum erfolgreichsten Exportartikel des russischen Volkes – gleich danach kommen Wodka und suizidale Romanautoren.«

Inhaltlich mag diese Aussage natürlich aus dramaturgischen Gründen übertrieben sein, doch sie illustriert einen wahren Aspekt: Russland importiert westliches Lebensgefühl – und die Waren, die dieses Lebensgefühl transportieren – hat aber selbst wenig aktuell attraktives Lebensgefühl anzubieten.


Manche Menschen argumentieren für die West-Nähe der Ukraine, indem sie auf die »Euromaidan«-Demonstrationen verweisen. Andere tun diese Demonstrationen als eine weitere Soros-Inszenierung ab. Film-Regisseur Oliver Stone geht so weit, in seiner Dokumentation »Ukraine on Fire«, für die er den abgesetzten ukrainischen Präsidenten Yanukovych interviewte, die Revolution von 2014 als weiteren CIA-Coup zu deuten (buzzfeednews.com, 30.12.2014).

Mich schreiben in letzter Zeit immer wieder Leser an, die mich auf einen Aspekt des Krieges in der Ukraine hinweisen. Etwa auf das Leid der ukrainischen Bevölkerung. Oder auf das Leid der Bevölkerung im Donbass. Oder auf die gegebenen oder nichtgegebenen Versprechen der NATO-Nichterweiterung. Oder auf die Rolle der Gasexporte für die Macht der Männer um Putin (siehe auch Essay vom 9.3.2022). Oder auf Biolabore, von denen nicht ganz klar ist, ob sie Biolabore sind, wie es sie in fast jedem Land gibt, oder doch etwas mehr (siehe auch Essay vom 11.3.2022). Und immer wieder sind die, die mir schreiben, geradezu wütend, wenn ich nicht den einen Aspekt am Russland-Ukraine-Konflikt betone, der ihnen besonders wichtig ist.


Nun, meine öffentliche Schreiberei begann, als ich feststellte, dass sich die Entwicklung von Debatten voraussagen lässt (seien wir zynisch und betrachten Krieg als »extra brutale Debatte«…), indem man ehrlich feststellt, welche Strukturen den Teilnehmern tatsächlich (!) relevant sind.

Es ist wahrlich keine neue Erkenntnis, dass ein Krieg nicht gewonnen ist, bis die Bevölkerung sich auch in der neuen Kultur wohlfühlt (weshalb die Römer einst, als sie neue Regionen eroberten, stets auch ihre Kultur mitbrachten, von Sanitäranlagen über befestigte Straßen bis zu Gladiatorenspielen; siehe auch Monty Python auf YouTube: »What have the Romans ever done for us?«).

Ich lese heute sich diametral widersprechende Deutungen zu den Ereignissen in der Ukraine – und es ist die Regel, dass beide widersprechende Seiten jeweils von gebildeten, erfolgreichen und klugen Menschen vertreten werden.

Ich wage es, zu den bestehenden Thesen, Deutungen und Vorhersagen eine weitere Ebene hinzuzufügen.

Sun Tzu lehrt, dass der Krieg entschieden ist, bevor er begonnen wurde. Bevor Putin auch diese »Murmel« in der Ukraine anstieß, stand schon fest, dass Ukrainer – wie auch nicht wenige junge Russen – wenn sie sich entscheiden müssten, sich ohne zu zögern fürs westliche Lebensgefühl entscheiden würden (vielleicht mit einem nostalgischen Fähnchen an der Wohnzimmerwand).

Putin scheint zu ahnen, dass Russen westliche Konsumkultur brauchen, um mit ihrem Leben etwas weniger unglücklich zu sein; aktuell droht er westlichen Firmen, die ihre Dienstleistungen einstellen, mit Enteignung (usatoday.com, 13.3.2022).

In Russland wurde aktuell vorgeschlagen, die McDonald’s-Filialen zu verstaatlichen und dort ein »Onkel Wanja« nach sozialistischen Prinzipien zu betreiben (der Name ist wohl eine Anspielung auf ein Tschechow-Stück; siehe Wikipedia); siehe derstandard.de, 10.3.2022. Ich bin mir nicht sicher, dass es dasselbe sein wird wie »Макдональдсе« – was übrigens »McDonald’s« in kyrillischer Schrift ist.

Ob westliche Konzerne und oder Putins Machtapparat, beide wollen sie, dass die Menschen in ihrem Machtbereich tagsüber fleißig arbeiten und am Abend dann möglichst brav daheim bleiben. Was auch immer Putin an Lebensgefühl anbieten kann, er könnte es schwer haben, ein attraktiveres Angebot parat zu halten als die Unterhaltung und Verführungen des Westens – das war vor 40 Jahren so, das ist vermutlich noch immer so.


Es fühlt sich tatsächlich manchmal so an, als wäre die Geschichte eine wild umherspringende Murmel, die einen endlos langen Abhang hinunterrollt, und wir schauen so gebannt wie atemlos zu, wie und wohin die Murmel als nächstes springen wird.

Ich weiß, wohin die Murmel strebt, was ihre natürliche Lage ist: Die Geschichte drängt es stets zu einem Zustand, in welchem die Menschen zufrieden leben können, in welchem sie sich relativ frei, relativ satt und relativ angstfrei fühlen.

Mögen die Menschen in der Ukraine – und allen übrigen, teils vom Westen entfachten Krisengebieten! – bald so frei, so satt und so angstfrei leben können, wie sie es qua Menschsein verdient haben.

Weiterschreiben, Wegner!

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