18.05.2022

Gelassenheit, ihr wählenden Freunde!

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten
Es ist klug, zu ändern, was man ändern kann – und gelassen hinzunehmen, was man eben nicht ändern kann. In diesem Geiste: Ist es eine gute Investition von Zeit und Energie, Politik zu diskutieren und wählen zu gehen?

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Sage mir, wer deine Freunde sind, und ich sage dir, wer du bist – so lautet eine alte Redensart. Einige meiner treuesten Freunde könnte man zwar »Kinder von Menschen« nennen, doch sie selbst sind nicht Menschen. Es sind Wörter und Worte, Gedanken in Form von prägnanten Sätzen: Zitate.

Wer über die letzten Jahre meine Texte liest, dem begegnet mit zunehmender Häufigkeit das berühmte Gelassenheitsgebet von Reinhold Niebuhr: »Vater, gib uns den Mut, zu ändern, was geändert werden muss, die Gelassenheit, hinzunehmen, was unvermeidbar ist, und die Einsicht, das eine vom anderen zu unterscheiden.«

Von den alten Griechen kennen wir die »Drei Siebe des Sokrates«. Der Mensch soll prüfen, ob das, was er sagen möchte, 1. wahr, 2. gütig, und 3. notwendig ist.

Ich selbst sehe mich dieser Tage bewegt, wenn ich Nachrichten lese oder einen Text schreibe, an meiner jeweils nächsten Handlung so etwas wie die »Siebe des Gelassenheitsgebets« anzuwenden: Betrifft es mich? Kann ich etwas daran verändern? Wenn ja, will ich es lesen, studieren und etwas daran tun?

Wenn nein, dann nicht.

45 Prozent

Letztes Wochenende waren Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Ich höre, dass die Wahlbeteiligung auf 55 Prozent gesunken ist.

Eine positive Reaktion könnte lauten: »Super, so viele Leute glauben, dass ihre Wahlstimme noch etwas ändert!«

Eine andere Interpretation wäre aber: »45 Prozent der Wahlberechtigten folgen dem Gelassenheitsgebet: Wahlen ändern nichts, also will ich das Ergebnis mit Gelassenheit hinnehmen – und ich spare mir die ganze Mühe, am freien Sonntag ins Wahllokal zu schlurfen.«

Sogar im Iran

Politik und Presse des modernen Staates brauchen aber Wahlen, ob in Deutschland oder in den USA, ob in Russland oder in Nordkorea. Macht setzt voraus, dass Menschen einen Mächtigen über sich herrschen lassen. Man kann es versuchen, hinter jeden Bürger einen Polizisten zu stellen, um ihn zum Gehorsam zu zwingen, doch dann stellt sich die alte Frage: Wer überwacht die Überwacher?

Bürger müssen das Gefühl haben, dass die über sie ausgeübte Macht gerechtfertigt ist, dann werden sie auch im unbeachteten Moment gern nach dem (vermuteten) Willen dieser Macht handeln. Ja, wenn sie die Macht tief genug verinnerlicht haben, werden sie aus eigenem Antrieb den (vermuteten) Willen dieser Macht unter ihren Mitmenschen durchsetzen.

»Göttliche Fügung« funktioniert heute nicht einmal in Gottesstaaten als Machtlegitimation; sogar im Iran haben sie Wahlen. Die Rechtfertigung aus der moralischen Kraft der Revolution verliert schnell an Kraft, siehe Kuba oder UdSSR.

Wahlen und Demokratie aber geben den Mächtigen eine psychologisch-moralische Legitimierung ihrer Macht. Wenn der demokratisch gewählte Herrscher das Land auspresst, kann er dem Bürger zynisch zurufen: »Du hast das doch selbst gewählt!«

Beschwer dich nicht

Demokratie braucht nicht einmal, dass unbedingt alle Wahlberechtigten wählen, um psychologisch legitimierend zu wirken. Denen, die gewählt haben, kann man sagen: »Selbst schuld, ihr habt als Kollektiv so gewählt!« – Und denen, die nicht gewählt haben, kann man sagen: »Selbst schuld, du hast nicht gewählt, also beschwer dich nicht!«

Alle Systeme, die als Alternative zur Demokratie versucht wurden, waren noch schlechter. Manche Bürger sind heute aber dennoch gegenüber der Demokratie zynisch geworden. Zitat: »Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.«

Es bleibt aber Fakt, dass die Demokratie das System ist, innerhalb dessen am ehesten versucht wird, die Selbstverwaltung der Menschen in den Einklang mit der eigenen kollektiven Weisheit zu bringen.

Ein zweites Ich

Jedoch, das Leben ist begrenzt. Ich bewundere jeden, der kämpft und hofft und arbeitet – und mit Herzblut wählen geht, der sich engagiert, in Wort und Tat.

Ich selbst will gegen meine mögliche Faulheit kämpfen, will gemeinsam mit Gleichgesinnten neue Hoffnung schaffen, und vor allem will ich an mir arbeiten.

Können wir die Welt fixen? Können wir uns selbst reparieren? Die Gemeinschaft, die Kultur, die Zeit? Was tun wir zu diesem immer lauter werdenden Klopfen im sogenannten »System«?

Ach, es wäre ein guter Anfang, wenn ich selbst mir zum Freund würde, wenn ich mich selbst davon abhalte, Zeit und Energie mit Überflüssigem zu verschwenden.

Von Cicero ist überliefert: »Verus amicus est tamquam alter idem«, zu Deutsch: »Ein wahrer Freund ist wie ein zweites Ich.«

Nützliche Zitate, die Weisheit klügerer Zeiten, sie sind mir nicht nur Freunde, sie sollen mir auch mein erstes Ich klüger machen.

Was auch immer der Weg ist, »das System« zu reparieren, ich bin mir sicher, dass es damit beginnt, als Individuum gelassener zu sein – gelassener und klüger.

Weiterschreiben, Dushan!

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