Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, so sagt eine Redeweise. Eine andere Redeweise begründet auch, warum dem so ist: »Man muss ja nicht das Rad neu erfinden!«
Der Mensch versucht, Energie zu sparen. »Energieeffizienz« klingt so viel besser als »Faulheit«.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, weil Gewohnheiten effizient sind. Ich putze meine Zähne so, wie ich es seit langen Jahren gewohnt bin. Was für eine Verschwendung mentaler Energie wäre es doch, bei jedem Zähneputzen aufs Neue das »Problem« der Zahnreinigung neu »lösen« zu wollen.
Gewohnheiten ersparen uns Denkarbeit, und das ist super – bis es ein Problem ist.
Einer meiner liebsten Witze geht so: Ein Mann kommt zum Arzt, bewegt seine Schulter, und sagt: »Herr Doktor, wenn ich so mache, dann tut es weh!« – Der Arzt antwortet: »Dann tun sie halt nicht mehr so!«
Ja, der Mensch wird auch Gewohnheiten beibehalten, die objektiv nicht mehr den einst gedachten Zweck erfüllen, zumindest längst nicht so effizient wie neuere Methoden es könnten.
Wir kennen ja die Ausrede: »Das habe ich schon immer so gemacht!«
Es ist eine Ausrede, also eine Lüge, die ich mir selbst erzähle.
Der Zen-Meister Shunryo Suzuki sagte: »Im Geist des Anfängers existieren viele Möglichkeiten. Im Geist des Experten existieren nur wenige.«
Wir sollen wie Anfänger werden, sagt der Zen-Meister. Sollen wir alle unsere Erfahrung loslassen? Sollen wir wie unerfahrene Kinder werden?
Nein. Wohl nicht. Im Geiste dieses Übungsbuches gesagt: Wir sollen bereit sein, Gewohnheiten loszulassen. Neue Lösungswege ausprobieren.
Loslassen, was nicht funktioniert. Nichts festhalten, nur weil es Gewohnheit ist. Und manchmal eben auch Gewohnheiten loslassen, weil so viel Anderes, nicht selten Besseres möglich ist.
Ein alter Hund lernt bekanntlich keine neuen Tricks, wir aber sind keine Hunde.
Der Mensch kann lernen, solange er sich erlaubt, Neues zu lernen. Wir können lernen, Gewohnheiten loszulassen.
Es ist nicht einfach. Es kann uns Angst einflößen. Doch auch Gewohnheiten, die wir uns einst selbst aneigneten, können uns über die Jahre fremd werden. Manche Gewohnheiten sind wie alte Äste, die weggeschlagen werden müssen, damit neue Äste wachsen und neue Frucht bringen können.
Ich rufe mir selbst Mut zu: Lass deine Gewohnheiten los! Suche aufs Neue, wie das anstehende Problem am klügsten zu lösen ist.
Was habe ich übersehen? Was wollte ich übersehen, um nichts ändern zu müssen?
Nach dem Aufwachen lese ich zuerst die Nachrichten. Das ist eine Gewohnheit. Ist es eine gute Gewohnheit?
Ich schiebe das Beantworten von E-Mails auf. Das ist eine Gewohnheit. Ist es eine gute Gewohnheit?
Und so weiter. Ich sollte einen Katalog meiner Gewohnheiten aufstellen, vom Kaffeetrinken bis zur Art, wie ich reagiere, wenn mich etwas ärgert.
Bei mancher Gewohnheit wird sich herausstellen, dass sie durchaus eine gute Gewohnheit ist, wie die mit dem täglichen Zähneputzen. Das behalte ich bei. Bei anderen Gewohnheiten werde ich feststellen, dass sie mich eben nicht zu dem macht, wer und was ich sein möchte. Ist es wirklich eine gute Idee, den Nachrichten zu erlauben, am Morgen die ersten Furchen in den noch frischen Tag zu ziehen? Ist das, wer ich sein möchte, ein Mensch, vom ersten wachen Augenblick an gestresst von der Welt?
Ich will meine Gewohnheiten überprüfen, und die, die mich nicht zum klügeren, freundlicheren Menschen machen, sollte ich loslassen – und an deren Stelle neue, klügere Gewohnheiten einüben.