28.02.2021

Höhere Türme, lautere Glocken

von Dushan Wegner, Lesezeit 3 Minuten, Foto von Matt Artz
Wurden Sie schon einmal von Glockenschlägen aufgeweckt? Wir bräuchten heute, metaphorisch gesprochen, höhere Glockentürme und lautere Glocken, die das Land endlich aus dem Schlaf holen!
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Einmal übernachtete ich bei einem Freund, und dieser Freund wohnte gleich neben einer ehrwürdigen Kirche, und am Abend wusste ich das noch nicht – am Morgen jedoch würde ich es sehr eindrücklich erfahren.

Jene Übernachtung geschah damals, als man vorm Wochenende noch überlegte, ob man einen oder gleich zwei Filme auf Videokassette ausleihen würde, und solches hatten wir auch in der örtlichen Videothek getan.

Es war ein später Abend geworden, ganz wie geplant, und eigentlich war ich davon ausgegangen, am nächsten Morgen etwas länger schlafen zu können.

Pünktlich zum Sonnenaufgang aber, gegen sechs Uhr, krähte zwar kein Hahn und ich hatte niemanden verraten, dafür schlugen aber die Kirchenglocken: »Bing! Bing! Bing! Bing!« – Einmal für jede Viertelstunde, und dann sechs tiefere und lautere Schläge für die Uhrzeit: »Bong! Bong! Bong! Bong! Bong! Bong!«

Ich war wach – und da es tatsächlich schon hell war, eben: Hellwach!

Jener Freund war nicht nur wochenendlicher Videokasetten-Fan, er war auch ernsthafter Protestant, und mit ernsthaft meine ich einen Protestanten von der Art, die wie dereinst etwa Luther im Papst den Antichristen sehen (damals wirkte der Papst auch, seien wir stets ehrlich, deutlich katholischer als heute). Er (jener Freund, nicht der Papst) kommentierte das Glockengeläut halb lapidar, halb wütend (wenn auch in jener Art von Wut, die den Gegenstand ihrer Wut nicht wirklich ganz missen will): »Das Tier brüllt!«

Prinzipiell existieren ja zwei Arten von Glockengeläut: Einmal das säkulare Glockengeläut, das eben die Uhrzeit ansagt (aber doch an die Existenz der Kirche erinnert), und dann das traditionelle Läuten, das etwa zum Gottesdienst ruft oder besondere Betzeiten markiert. Was immer die jeweilige offizielle Bedeutung des Geläuts sein mag, die beiden tatsächlichen und psychologischen Funktionen bleiben doch, erstens den Tag der Menschen hör- und fühlbar zu strukturieren, und den Bürger zweitens an die Verbindung zur Kirche und damit ans Vorhandensein erhabenerer Werte zu erinnern, an ewige Ordnung und höheren Auftrag.

Ich sehe heute, erstens was den Deutschen angetan wird, und zweitens von was für geradezu lächerlichen Gestalten es getan wird, und ich finde mich an der Grenze zur Sprachlosigkeit ob der schläfrigen Duldsamkeit des Volkes.

Sie ahnen, liebe Leser, was ich mir gern wünschen möchte (und wohl nicht nur metaphorisch): Glocken. Große, laute Glocken mit großen, lauten Glockenschlägen. Glocken, die uns aus dem Schlaf holen.

»Ring the bells that still can ring«, so singt Leonard Cohen: Läutet die Glocken, die noch läuten können. (Kurz darauf folgt im Lied Anthem seine vielleicht berühmteste Zeile: »There is a crack, a crack in everything, that’s how the light gets in«, zu Deutsch etwa: Es gibt einen Riss, einen Riss in allem, so gelangt das Licht hinein.)

Wir haben zu wenige Glockentürme heute, metaphorisch gesprochen, und zu wenige Glocken. Zu viele sind vernagelt, zu wenige fest gemauert in der Erden. Was wir bräuchten, wären lautere Glockenschläge, wirksame Worte, bessere Gedanken, auf dass die Schlafenden aus ihren viel-zu-weichen Betten fallen – auf den Boden der Realität, gewissermaßen.

Das Tier brüllt nicht mehr, es ist viel zu sehr damit beschäftigt, mit der Macht zu kuscheln, sich um seine Geschäfte und Interessen zu kümmern.  

So mancher hat die letzten Nächte viel zu lange Videofilme geguckt, und er bekommt einfach nicht mit, was die Stunde geschlagen hat.

Was wir brauchen – und wir brauchen sie dringend – sind lautere Glocken, die das Land endlich aus dem Schlaf läuten!

Weiterschreiben, Dushan!

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