16.09.2024

Nach Hirntod: Organspende oder bei ARD anheuern?

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten
Zerrissenheit bezüglich Organspende: Einerseits ist es wohl gut, wenn mein toter Körper ein Leben retten kann. Auf der anderen Seite glaube ich den Politikern, die dafür werben, exakt gar nicht.

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Ich habe ein Haarbüschel meines Sohnes. Heute sind seine Haare dunkler, aber es gab eine Zeit, da waren sie blond. Das ist bei einigen in meiner Familie so.

Es gibt Leute, die finden es gruselig, dass wir diese Haare aufheben. Wir hätten die alle auf dem Boden des Friseursalons lassen sollen, sagen die. Ich dagegen finde es nicht gruselig, ich empfinde eine sehr angenehme Sentimentalität bei diesem Anblick.

In meinen heutigen Überlegungen geht es um Organe und die Entnahme von Organen. Das wisst ihr vom Lesen der Überschrift. Und Haare sind kein Organ in diesem Sinne, ich weiß. Außerdem ist mein Sohn wahrlich nicht hirntot, bloß etwas pubertär.

Doch diese Haare waren mal Teil eines lebendigen Körpers, und es ist denkbar, dass jemand sie für irgendeinen Zweck verwenden würde. Insofern wären sie ein praktisch benutztes Körperteil.

Stellen wir uns aber einen ganz anderen Körperteil vor, etwa meine Hand.

Stellen wir uns vor, mir wäre die Hand amputiert worden, und ich wollte diese Hand behalten. Je nachdem, welchen Fachmann man fragt, wäre es theoretisch denkbar, unter Umständen eine präparierte Hand, einen Finger oder ein anderes Organ in Formaldehyd mit nach Hause zu nehmen.

Mir geht es jetzt nicht um die praktische Bürokratie und Präparation. Mir geht es um die ethische und sonstige emotionale Intuition. Die Hand eines Menschen, und sei es die eigene, bei sich im Regal aufzubewahren, wäre so viel gruseliger als ein Büschel Haare.

Aber nicht medizinisch oder hygienerechtlich, sondern philosophisch gefragt: Was genau wäre denn so viel anders bei der Hand als beim Haarbüschel?

Sagt mir an dieser Stelle bitte nicht, »das ist doch klar, das fühlt man doch«. Die Frage ist: Warum fühlt sich das für uns so anders an?

Und wie wäre es mit dem Kopf? Wir kennen ja genug Fälle in der Geschichte, in denen der Kopf oder zumindest der Schädel geschätzter Menschen aufbewahrt wurde! Bisweilen sogar mehrfach! Der Schädel von Johannes dem Täufer findet sich in Rom, im französischen Amiens, in Damaskus und wohl im jordanischen Madaba.

Warum aber haben wir weniger Probleme damit, Fingernägel abzuschneiden und wegzuwerfen? Mehr Probleme mit dem Anblick ganzer Haarbüschel? Große Probleme mit einer ganzen Hand? Ja, vielleicht wäre eine einzelne Hand auf gewisse Weise noch gruseliger als ein abgetrennter, toter Kopf. – Warum aber?

Ich wage es, eine spontane Theorie aufzustellen: Ein abgetrennter Körperteil ist umso gruseliger, je leichter wir uns vorstellen können, dass der Mensch darin noch lebt. The »Ghost in the Machine«, wie meine für japanische Popkultur entflammte Tochter sagen würde.

Bei einer Hand könnten wir uns vorstellen, dass sie spontan zugreift. Ein zusammengebundenes Haarbüschel scheint noch etwas eigene Spannung und damit »Leben« zu besitzen. Das wäre anders, wenn dieselben Haare auf dem Boden des Friseursalons verteilt wären.

Nach all diesen Erforschungen unserer emotionalen Welten, lasst uns über die Entnahme von Organen reden.

Worüber wir reden

Wenn ihr mit mir hier nachdenkt, wisst ihr garantiert nicht weniger über Organentnahme als ich. Lasst mich also vor allem festhalten, worüber wir reden.

Vorab: Ihr habt es gemerkt, ich verwende nicht das Propagandawort »Organspende«. Mein Begriff von »Spende« beinhaltet, dass ein Mensch einem anderen freiwillig etwas überlässt. Das setzt doch einen Willensakt voraus. Eine Niere oder Knochenmark kann man nach meinem Verständnis des Wortes »Spende« tatsächlich spenden, denn da lebt man noch.

Während längst nicht alle, die biologisch lebendig zu nennen sind, auch über einen nennenswerten eigenen Willen verfügen – siehe Tagesschau-Publikum –, so muss doch jeder, der sich eines eigenen Willens erfreut und erst dadurch spenden kann, mindestens biologisch lebendig sein.

Der junge Herr, von dem dieses Büschel stammt, brachte mir letztens einen unter Jugendlichen geläufigen, hoffentlich spaßig gemeinten Fluch bei: »Go hug a tree« – »Geh einen Baum umarmen«.

Gemeint ist damit allerdings nicht die Aufforderung, zum Naturfreund zu werden, sondern bitte schön mit dem Motorrad aus voller Fahrt einen Alleebaum zu zieren. Das sagen die Jugendlichen wohl einander so.

Wenn ein Motorradfahrer sich aber wirklich um einen Baum wickelt und seine Organe anschließend wiederverwendet werden, um etwa das Leben eines anderen Mitglieds seiner Motorradgang zu verlängern, dann hat er doch nicht wirklich »gespendet«.

Was die Propaganda eine »Organspende« nennt, ist im besten Fall eine noch zu Lebzeiten gegebene Einwilligung zur Organentnahme nach dem Tod. Also weniger eine »Spende«, als eher eine »potenzielle und hoffentlich nie eintretende Organvererbung«.

In Deutschland will man diese Einwilligung nun sogar implizit machen, sodass man ihr erst explizit widersprechen muss. So wird aus der »Spende« eine Art von »Nötigung zur Einwilligung«. Und diesmal gibt es nicht mal eine Bratwurst dazu.

Die zwei großen ethischen Fragen der Organentnahme sind meines Erachtens nicht, wann jemand einwilligt oder anti-einwilligt. Auch das Geschäft, das damit gemacht wird, erscheint mir wie eine Nebendiskussion. Die eine große Doppelfrage bleibt (nicht nur) für mich: Was ist ein Mensch und ab wann genau ist er tot?

Die eigentliche Frage

Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat einmal über Begriffe geschrieben, dass es sich mit ihnen verhält wie mit zwei Leuten, die jeder in seinem Garten stehen. Jeder von ihnen weiß dabei, dass er sich in seinem Garten befindet, selbst wenn sie sich nicht einig sind, wo exakt die Grenze zwischen den Gärten verläuft.

Das Problem ist, dass wir uns bei der Debatte über Organentnahme eben doch auf der Grenze zwischen diesen »begrifflichen Grundstücken« befinden.

»Mensch«, »Leben« und »Nicht-Leben« sind jeweils Begriffe, die uns zwar maximal wichtig sind, wenn wir »mittendrin« sind, doch deren Grenzen uns keineswegs klar sind.

Wir sind uns nicht einig, wo präzise das Leben beginnt, und wir sind uns nicht einig, wo genau es endet. Es ist keine Frage mangelnder Wissenschaft, sondern der Unzulänglichkeit unserer Begriffe.

Menschliches Denken und damit unsere Begriffe wurden von der Evolution fürs Überleben in der Savanne optimiert. Unsere Vorfahren hatten keine lebenserhaltenden Maschinen, die den nach einem Keulenschlag hirntoten Onkel »am Leben« erhalten konnten. Was tot war, war tot.

Prämisse und Möglichkeit

Mediziner haben für den Menschen also die willkürliche Grenze »Hirntod« gezogen. Wenn das Gehirn irreparabel hinüber ist, gilt der Mensch als tot, und seine Organe sollen entnommen und wiederverwendet werden können.

Ist ein Mensch, dessen Gehirn nicht mehr funktioniert, aber dessen sonstige Körperfunktionen noch künstlich am Laufen gehalten werden, wirklich tot? Wer dies sagt – wie ich es tue –, der setzt die begriffliche Prämisse, dass der Mensch im Wesentlichen »(s)ein Bewusstsein ist« und dass seine unveräußerlichen Rechte aus der Möglichkeit eines Bewusstseins stammen (auch ein Schlafender ist ein Mensch mit allen Rechten, da er ja die Möglichkeit hat, aufzuwachen).

Wenn also kein Bewusstsein vorliegt, und auch die Möglichkeit von Bewusstsein ausgeschlossen scheint, dann wäre ein Mensch nach der Hirntod-These eben nicht mehr ein Mensch im vollen Sinne, sondern er hinterließe bloß einen Leichnam, der sich von der Medizin recyclen ließe. Hirntod rettet Leben!

(Wusstet ihr, dass knapp 10 Millionen Deutsche täglich die Tagesschau gucken? Ich verstehe echt nicht, wie Organe knapp sein können, wenn Hirntod das Kriterium ist.)

Dann wäre da auch noch die Frage der »körperlichen Unversehrtheit«. Wie die Haarsträhne meines Sohnes bei mir sentimentale Gefühle auslöst, so wünschen sich Menschen für sich und ihre Lieben, dass deren Körper doch bitte von Würmern oder Flammen gefressen werden, nicht von den Ärzten zerschnitten und weiterverkauft. Manche Religionen laden dies sogar noch mit Mythen von der Wiederauferstehung des Menschen auf, bei welcher die neuen Körper sich aus den alten Überresten der Menschen bilden. (Das wird spätestens dann spannend, wenn dieselben Moleküle Teile mehrerer menschlicher Körper waren.)

Ein Mensch ein Mensch

Ich habe Werte, die für mich funktionieren, aber keine endgültigen moralischen Empfehlungen.

Ich gehöre zu denen, die glauben, dass das Bewusstsein eine Funktion des Körpers ist, mit dem Gehirn als dem Organ, das mithilfe aller übrigen Organe ebendieses Bewusstsein produziert.

Es ist für mich keine Sache des Glaubens oder der Wahrheiten, sondern eine Frage der Begriffe, wann ein Mensch ein Mensch ist und wann eben nicht. Ich verwende den Begriff »lebender Mensch« so, dass wenn erkennbar kein Licht mehr brennt, man davon ausgehen kann, dass keiner mehr daheim ist – und damit kein Mensch mehr existiert.

Ich notiere jeden Tag diese Gedanken, um mit euch zu teilen, was am betreffenden Tag in meinem Gehirn vorgeht. Es erschiene mir nur konsequent, dass wenn dieses Gehirn eines Tages buchstäblich den Geist aufgibt, wenigstens die Organe noch irgendwem nützen. Klar, ich könnte nach meinem Hirntod auch bei ARD oder ZDF anheuern, als Journalist, aber lieber würde ich passiver Sprengstofftester beim Militär. (Und ja, das ist ein mögliches Schicksal für Leichen, siehe reuters.com, 23.12.2016.)

Nein, ich habe keine Meinung, die ich euch empfehlen würde, außer der, eure Begriffe zu prüfen und zu schärfen. Ich weise vielleicht noch qua Philosophenamt darauf hin, dass unsere alltäglichen Begriffe von »Mensch«, »Tod« und »Leben« schlicht ungenügend sind für diese grenzwertige Situation. Wie auch immer du entscheidest, du hast nicht »die Wahrheit« oder »die einzige ethisch richtige Lösung« gefunden – du hast dich lediglich für eine mögliche Verwendung des Begriffs entschieden, aber das ist immerhin etwas.

Ich sage: Genießt euren Körper, bevor jemand anderes ihn braucht! Nutzt euer Gehirn, solange es lebt.

Doch wenn ihr mich zu einem Rat zwingen solltet, wenn ich für euch entscheiden müsste, dann würde ich nur dies sagen: Ich vertraue denjenigen, die sich heute politisch für Organentnahme einsetzen, genau gar nicht.

Aus Erfahrung dagegen

Ihr wisst, wie Altparteien es mit der AfD halten: Wenn die AfD sagt, dass es regnet, werden sie sagen, dass die Sonne scheint, und wenn sie sich klatschnass im Regen die Grippe holen.

So ähnlich halte ich es mit dem gesundheitspolitischen Personal und überhaupt dieser Regierung: Wenn die für Organentnahme reden, dann rede ich dagegen. Meine Überzeugung sagt mir eigentlich, dass Organentnahme eine gute Sache ist. Nichts ist wichtiger als das Leben! Meine Erfahrung lehrt mich allerdings auch, dass ich dieser Regierung nicht trauen sollte. Manchmal muss man womöglich aus Erfahrung gegen seine Überzeugung handeln.

Weiterschreiben, Wegner!

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