Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Libsyn. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf den Button unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
‚
Ich las bei Musil von einem besonderen Heimweh. Ich überlas die Stelle erst, doch sie hakte sich in mir fest. Eine Saite schwang und klang in mir, und als ich eine oder zwei Seiten weiter gelesen hatte, musste ich zurückblättern, und tatsächlich: Er zupfte nochmal an derselben Saite in mir, dieser Satz.
Es ist ja nicht einmal ein vollständiger Satz. Das finite Verb fehlt, was dieser Passage etwas Infinites gibt, etwas Unabgeschlossenes (um nicht »Unendlich« zu sagen, schlicht aus Respekt vor so hohen Worten).
Auf einen kurzen Satz zuvor, in welchem wir dann das finite Verb finden (Zitat: »Und eines Tages ist das stürmische Bedürfnis da«), und zwei Ausrufen (Zitat: »Aussteigen! Abspringen!«), auf diesen Auftakt folgt im Eigenschaftslosen die Passage, die ich meine, nämlich:
Ein Heimweh nach Aufgehaltenwerden, Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben, Zurückkehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt!«
Ach, so viele Obertöne!
Heimweh nach Aufgehaltenwerden: Heimweh – anders als die meisten üblichen Schmerzarten ist Heimweh ein aktiver, ein wollender, ein (hoffentlich…) zielgerichteter Schmerz. Aufgehaltenwerden jedoch, das ist doppelt passiv – aufgehalten und werden. Man könnte ja auch sich selbst aufhalten, doch nein: hier will der Schreiber aufgehalten werden.
Nichtsichentwickeln und Steckenbleiben, wieder zwei – auch sarkastisch deutbare – Passive. Vor lauter Passivität verblasst bereits die zarte Aktivität des Heimwehs zuvor (so man sie überhaupt entdeckte) – und dann wird es endlich aktiv, und es wird ausgesprochen. In der Sprache unseres Deutschunterrichts von damals, sagt der Autor uns dankenswerterweise, »was der Autor sagen wollte«: »Zurückkehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt«.
Dieser Schmerz gleicht dem Heimweh auch darin, dass das Zurückkehren in der Zukunft stattfinden soll, nächstes Jahr daheim – man könnte es Zukunftsweh nennen.
Dieser Schmerz unterscheidet sich vom Heimweh darin, dass er sich nicht auf einen räumlichen Ort zu beziehen scheint – eher auf den Zustand eines Ortes, genauer wohl auf den Zustand der Gesellschaft an eben diesem Ort, nur zu einer anderen Zeit, das eigene Lebensgefühl genau hier, aber damals. Ein Heimweh nach einem bereits geschehenen Punkt in unserem Lebenslauf.
Was wäre wohl schmerzhafter? Nicht gewusst zu haben, dass es die gute alte Zeit war, als sie geschah, sie also de facto verpasst und nur beiläufig erlebt zu haben – oder es dort und damals sehr wohl gewusst zu haben, dass es gut war, sich dessen ganz und voll bewusst gewesen zu sein, mit Goethe den Augenblick angefleht zu haben, er möge doch verweilen, er sei so schön – doch vergeblich, der Augenblick verging, wie eben die Augenblicke und dann wir alle vergehen.
Mancher tritt auf die Straße vor der eigenen Haustür, oder er besucht die nahen Plätze seiner auf andere Weise noch nahen Kindheit, und er schaut um sich, und es ergreift ihn Heimweh – Heimweh nicht nach einem anderen Ort, sondern nach diesem Ort, vor der falschen Abzweigung, bevor dieser Ort so wurde, wie er heute ist.
Ein Heimweh, das die vermeintlich Fortschrittlichen als »Steckenbleiben« oder »Nichtsichentwickeln« verhöhnen mögen, das ich aber als »Zurückkehren« erkenne. Es schlägt eine Saite an in mir, und ich will einige Seiten zurückblättern, meinen Finger ins Buch legen, an die Stelle, wo es noch schön war.
Ich will »zurückkehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt«. Ich spüre dieses Heimweh für mich – und ich spüre es für uns.
Es wäre ein gutes Zurückkehren, und wir dürfen Heimweh haben. Ein Zurückkehren nach Hause. Ein Zurückkehren an den Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt.