29.04.2025

Hey Leute, was ist schlimmer als Stromausfall?

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild: »Ja, wo sind sie denn alle?«
In Spanien ist der Strom ausgefallen. In Deutschland fallen Verstand und Demokratie aus. Es macht nur noch sprachlos, wer so als neuer Minister gehandelt wird. Der Unterschied: In Spanien wurde der Strom wiederhergestellt …
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Gestern fiel die Stromversorgung auf der spanischen Halbinsel aus, bis in die Nacht.

Gestern schrieb ich euch, wie am Ostermontag gleich mehrere Leute mir den gleichen »Scherz« sandten.

Nun, am gestrigen Nachmittag schrieb man mir, ich solle zur Sicherheit nicht den Aufzug benutzen. Die Tochter schrieb aus Madrid. Der Sohn schrieb aus der Schule. Ich erklärte ihnen, dass die Kanaren nicht spanisches Festland sind.

Am Abend fiel dennoch auch unser Internet aus. Und dann die Mobiltelefone, bis in die Nacht. Vermutlich weil das kanarische Internet und die Telekommunikation übers Festland laufen.

Am Morgen war zumindest die Mobilverbindung wieder da. Ich hoffe, dass über niemandes Leben entschied, ob er in jener Zeit den Notruf erreichen konnte.

Weshalb?

Mein Verstand ging davon aus, dass irgendwo im spanischen System irgendeine Komponente ausgefallen war, was dann weitere Systeme ausfallen ließ. Es würde bald behoben sein.

Doch ich wäre nicht ich, wenn mir nicht auch Verschwörungstheorien in den Sinn gekommen wären. Darunter etwa: Telekommunikation und Internet abzuschalten, inklusive Verkehrsampeln und Zahlungsmittel, das wäre doch eine treffliche Maßnahme, um Massenpaniken zuvorzukommen. Massenpaniken, weshalb?

Im Internet, so es denn erreichbar war, las man weitere Theorien wie etwa Cyberattacken aus dem Ausland (tagesschau.de, 28.04.2025).

Weitere Theorien und Erklärungen sind plötzliche radikale Schwankungen in der Strommenge, irgendwas in der Atmosphäre, Abhängigkeit von erneuerbarem Zappelstrom (siehe Erklärungen von Grok-KI).

Inzwischen funktioniert Spanien wieder, weitgehend. Und die Verschwörungstheorien haben sich für den Augenblick wohl erledigt. Man könnte es sogar positiv deuten: Auch wenn etwas in der spanischen Stromversorgung super falsch läuft, kollabiert die Gesellschaft dennoch nicht (sofort). Die Menschen bleiben seelisch stabil (solange sie nicht den Notruf brauchen). Die Verantwortlichen kümmern sich, am nächsten Tag ist alles wieder da, und hoffentlich hat man etwas gelernt, auf dass es nicht noch mal vorkommt.

Von höheren Mächten

Natürlich hat der Stromausfall uns alle unsere Abhängigkeit von höheren Mächten spüren lassen. Und es erinnert uns daran, dass manche größere Strukturen maximal relevant für uns sein können, wir unser ihrer aber nur selten bewusst sind. Im Buch Relevante Strukturen verwende ich das Beispiel Wasserversorgung, doch Strom, Internet und Mobilnetze zählen ohne Zweifel dazu,

Und doch, bei allem Schockwert des riesigen Stromausfalls: Er war nicht das, was mir gestern am meisten Angst bereitete.

Es erinnert

Die angsteinflößendste Meldung gestern war das Video einer SPD-Bundestagsabgeordneten namens Sonja Eichwede. Ihr findet das Video online auf X, zum Beispiel bei @anti_ideologist.

Eichwede ist Juristin und war sogar Richterin, bevor sie in den Bundestag einzog (siehe Wikipedia).

Im Video aber nimmt die Bundestagsabgeordnete und ehemalige Richterin einen mädchenhaften Tonfall an, der an emotionale, aber faktenschwache Argumentationen und TikTok-Tanzvideos linksgrüner Aktivistinnen erinnert.

Das Video beginnt wörtlich so: »Hey Leute, wurdet ihr im Netz schon mal beleidigt oder habt irgendwie digitale Gewalt erfahren?«

»Hey Leute«, das ist Kommunikation auf Kinder-Niveau. Die Verkindlichung der Politiker. »Digitale Gewalt« klingt mir wie ein Propaganda-Bullshit-Ausdruck. Ähnlich wie »Hass und Hetze«. Eines jener Worte, wie Undemokratien sie erfinden, die alles und nichts bedeuten können.

Und warum?

Das Video soll die Zielgruppe dazu auffordern, Aussagen im Internet öfter anzuzeigen. Und im Tonfall einer jugendlichen Aktivistin behauptet die Juristin, die es doch besser wissen sollte: »Beleidigung und Hass-Nachrichten im Internet sind Straftaten.«

Nein, sind sie in dieser Schlichtheit erst mal nicht. Wie genau ist »Hass-Nachricht« überhaupt definiert? (Siehe dazu auch mein Essay »Deine Meinung ist Hass, und Hass ist keine Meinung« – aus dem Jahr 2018!)

»Traut euch!«, ruft die Politikerin ihrem Publikum zu. Traut euch, eure Mitbürger anzuzeigen, wenn sie etwas potenziell Verbotenes im Internet sagen.

Und warum?

»Weil man da den gesellschaftlichen Konsens verlässt.«

Jetzt ohne Zweifel

Wer den gesellschaftlichen Konsens verlässt, begeht schon eine Straftat?

Dass eine Gestalt wie diese Sonja Eichwede als Politiker im deutschen Bundestag sitzen kann, finde ich persönlich hochproblematisch. Dass sie MdB für eine Regierungspartei ist, illustriert meines Erachtens die reale und weiter wachsende Kluft zwischen Demokratie und »Unsere Demokratie«.

Nun aber, so lese ich, wird genau diese Person als nächste Justiministerin gehandelt.

Seit Jahren (etwa 2019) schreibe ich von meinen Zweifeln darüber, ob der von Habermas formulierte zwanglose Zwang des besseren Arguments noch gilt. Einfacher könnte man auch sagen: ob der gesunde Menschenverstand noch Konsens ist.

Es sind, fürchte ich, keine Zweifel mehr.

Es ist Gewissheit.

Nicht streng genug

Nein, das bessere Argument und der gesunde Menschenverstand sind nicht mehr Konsens. Der neue Konsens ist, was gesagt werden darf. Es darf gesagt werden, was die Propaganda als sagbar festlegt. Alles außerhalb dieses »Konsens« ist Straftat. Und Straftaten sind anzuzeigen, sei es dein Vater oder dein Bruder, der sie begeht.

Und auch die übrigen Kandidaten für Ministerposten erzeugen wenig Zuversicht. Die kommende Gesundheitsministerin fand die Corona-Maßnahmen nicht streng genug und hetzte gegen einen »falsch verstandenen Freiheitsgedanken« (@HeikeB7868, 28.04.2025). Und: »Mit Karin Prien sitzt die Amadeu-Antonio-Stiftung im Kabinett« (jungefreiheit.de, 28.).

Für einen Tag

Es ist der nächste Tag, und Spanien ist wieder mit dem spanischen Alltag beschäftigt. Ein Stromausfall lässt sich überleben.

Ein Land aber, wo Politiker auf dem Niveau von Kleinkindern argumentieren und Demokratie durch »Unsere Demokratie« ersetzt wird, wo das Verlassen des emotionalen »Konsens« als Straftat gilt und die Regierung mit Figuren besetzt wird, deren Berufung als Delegitimierung des Staates bewertet werden könnte – das bereitet mir weit mehr Angst als ein Stromausfall.

In Spanien ist der Strom ausgefallen, für einen Tag.

In Deutschland fallen Verstand und Demokratie aus.

Der Unterschied ist: Der Strom in Spanien wurde wiederhergestellt.

Hey Leute!

Weiterschreiben, Wegner!

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