Dushan-Wegner

10.05.2019

Sag etwas, denn ich beginne, dich aufzugeben

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Bild von Paweł Czerwiński
Ich möchte manchmal das Land an den Schultern packen und schütteln, und ihm Vernunft ins Ohr brüllen: Es gibt Regeln und Mechanismen, die gelten und passieren, ob man sie mag oder nicht!
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Früher bin ich häufiger vor Menschen aufgetreten. Als ich jung war und zur Kirche ging, habe ich sogar manchmal vor vielen Menschen gesungen. Manchmal waren es zweihundert, manchmal mehr. Manchmal hatte ich die Lieder selbst geschrieben. Solo. Ich weiß nicht mehr, wo die Lieder sind. Ich weiß nicht, ob jemand sie aufgenommen hat.

Ich kenne kein Lampenfieber, aber ich kenne etwas anderes. Lampenfieber hat der Solist oder der Sänger vor dem Auftritt; meine Pein tritt immer erst nach dem Vortrag ein.

War ich gut genug? Haben die Menschen verstanden, was ich sagen wollte? Habe ich selbst verstanden, was ich sagen wollte? War es gut, was ich anbot, war es gut genug?

Ob ich vor hunderten Hörern spreche oder für tausende Leser schreibe, eines bleibt gleich: In mir toben immer zwei sich widersprechende Gefühle. Nicht Lampenfieber, nein. Etwas anderes.

Einerseits fühle ich mich allein; ich fühle mich unsicher, ob ich gute Worte finden werde, ob ich die richtigen Worte gefunden habe. Bin ich, wie Nietzsche es formulierte, der richtig Mund für diese Ohren? Ich weiß es nicht, ich werde es immer nur im Nachhinein erfahren, und die ganze Zeit über bin ich einsam.

Und dann, andererseits, spüre ich die Gewissheit: Ich bin nicht allein, ich bin unter Tausenden. Ich bin unter Freunden. Ich werde gehört und gelesen von Menschen, die mir Gutes wollen, die meisten von Ihnen zumindest. Sie erwarten meine Worte. Manche sagen mir danach, dass meine Worte ihnen halfen. Das ist, für mich, das Gegenteil von Alleinsein. Es ist eine tiefe Verbundenheit, durchaus der Innigkeit einer Familie nicht unähnlich.

In diesen Tagen – nein, besser: In diesen Jahren wünsche ich mir, ein ganzes Land an den Schultern greifen zu können, es zu schütteln, und ihm Vernunft ins Ohr zu rufen, und zwar so: »Es gibt Regeln und Mechanismen, nach denen die Welt funktioniert, und sie gelten und sie werden zur Anwendung kommen, ob sie euch gefallen oder nicht!«

Heute will ich ein Poplied heranziehen, auf dass es mir helfe, meine Gedanken mit Ihnen zu teilen. Dieses Lied soll mir dienen, zu meinem größten in deutscher Sprache denkbaren Publikum zu sprechen – zu Deutschland selbst – ach, warum nicht gleich zum gesamten Westen? Ich wage das, ich erlaube es mir.

Das Lied heißt »Say something«, und es stammt von der Gruppe »A Great Big World«, gemeinsam mit der Sängerin Christina Aguilera (YouTube-Link).

Der gefühlte Wert

Das Lied beginnt mit diesen Worten: »Say something, I’m giving up on you!« – Ich übersetze den Text hier frei ins Deutsche, und ich schreibe meine Gedanken dazu.

Sage etwas, ich beginne, dich aufzugeben
Ich werde derjenige sein, wenn du willst, dass ich es tue
Ich wäre dir überall hin gefolgt
Sag etwas, ich beginne, dich aufzugeben

Der gefühlte Wert eines Gegenstands kann vom Preis abhängen, den ein Mensch für diesen zahlte.

Ich gehöre zu jenen Menschen, deren Familie alles aufgab, um in den Westen zu fliehen. Wir verkauften zwei Häuser für den Gegenwert von Flugtickets in die Freiheit. Sozialismus ist Dreck, egal was irgendwelche Hosenscheißer Ihnen erzählen, und im Sozialismus ist alles weniger wert, viel weniger wert, nicht zuletzt das Leben selbst.

Wer einen Ziegelstein über seinem Zeh fallen lässt, dem wird der Zeh gebrochen werden. Minister, bei denen man sich fragt, was sie tun, außer geradezu irre teure Beraterverträge zu verteilen  (spiegel.de, 9.5.2019: »Berateraffäre im Verteidigungsministerium: Leitender Beamter wollte belastende Akten vernichten«). Politiker, denen immerzu die Diäten steigen (spiegel.de, 9.5.2019), während die Straßen des Landes gefährlich werden (siehe etwa bild.de, 10.5.2019: »Er hatte seinen Abschiebe-Bescheid in der Tasche …«). »Bund nimmt bis 2023 rund 124 Milliarden Euro weniger Steuern ein«, lesen wir (rp-online.de, 9.4.2019), doch die Politik kümmert sich zum großen Glück um die wirklich wichtigen Dinge: »Entwicklungsminister Gerd Müller fordert ein sofortiges Verbot von Plastiktüten« (rp-online.de, 10.5.2019). Das Geld wird weniger (außer für die Politiker, klar), die Heimat zerbröselt, aber um das Wichtige ist gesorgt: Die armen Rentner sammeln die Flaschen nur noch in wiederverwertbaren Jutetaschen! – Was erwarten diese Politiker, dass als Nächstes geschehen wird? Haben die irgendeinen Plan?

Meine Familie hat alles, was wir damals hatten, verkauft und weggegeben, um in den Westen zu kommen. Wir haben jahrzehntelang gearbeitet. Wir zahlten und zahlen Steuern. Es war uns wichtig – das war unser Verständnis von »Ehre« – keinen Tag lang Sozialhilfe zu beziehen, wie dreckig der Job auch gewesen sein mag.

Doch jetzt beginne ich, das alles aufzugeben. »Sage etwas«, so rufe ich, »sage etwas, liebes Deutschland, lieber Westen, liebe – verdammt nochmal – liebe westliche Zivilisation, sage etwas, denn ich spüre, wie ich beginne, dich aufzugeben.

Wo das Moped hinfährt

Und ich fühle mich so klein
Es ging mir über den Kopf
Ich weiß überhaupt nichts
Ich werde stolpern und fallen
Ich lerne immer noch, zu lieben
Ich lerne immer noch, zu krabbeln

Es gibt vieles, ach so vieles, so blutig ätzend schmerzhaft viel zu vieles, was einem am Niedergang des Westens wehtut!

Ist es »mädchenhaft«, zu schmachten, zu sehnen und ein Tränchen zu verdrücken? Wenn ja, dann erkläre ich hiermit, dass der Film »Die fabelhafte Welt der Amelie« mich zum Mädchen werden ließ, jedes Mal, wenn ich ihn sah.

Was für eine Freude war es mir, als ich mit meinen eigenen Mädchen die Stationen der Amelie in Paris besuchen konnte. Den Gare de l’Est, klar, aber auch da oben, wo das Moped langfährt. Mit dem Töchterlein habe ich im Cafe des Deux Moulins selbstverständlich Crème brûlée gegessen. Die Tochter hat auf den geschmolzenen Zucker geklopft, wie Amelie. Wir haben Steine springen lassen, wie Amelie, wenn auch wohl auf der falschen Sperre. Egal, es war in Paris. Mein Paris. Unser Paris.

Der Amelie-Regisseur hat kürzlich gesagt, dass er keinen zweiten Teil zu Amelie drehen wird. Seine Erklärung: Paris sei heute zu hässlich. Wir ahnen, was er sagt. Was Sie zerbrechen hören, das ist kein Wagen und kein Band ums Herz – es ist mein Herz selbst. Paris wurde geopfert für die irre Ideologie der Globalisten und selbsterklärten Guten. Weitere Worte über diese Leute verbieten sich mir hier, schon der Höflichkeit wegen. Kann man, sollte man, darf man ganz unzivilisiert werden, wenn der Verlust der eigenen Zivilisation ansteht?

Das Schlimmste ist, dass ich mich einst so sehr darauf gefreut hatte, meinen Kindern zu zeigen, was mir so wichtig war. Das Zweitschlimmste, und doch so sehr Schmerzhafte ist, dass ich selbst noch so sehr viel lernen wollte, erfahren wollte, erleben wollte. – Wir hatten so viel. Wir hatten so viel Schönes. Ich fühle mich so klein.

»Ich weiß überhaupt nichts«, ja, es wird täglich wahrer. In einer Zeit der so lauten wie falschen Wahrheiten wird mein Nichtwissen zur letzten Gewissheit.

Ich hatte gerade erst begonnen, zu lernen, zu verstehen, zu sehen, was diese ganze »Aufklärung« bedeutetet, ich hatte »zu krabbeln« begonnen, auf dem Pfad, den Giganten vor mir gegangen waren, und nun lassen Zwerge in Palästen den Pfad verrotten.

Sag etwas, lieber Westen, denn ich beginne, dich aufzugeben!

Es verschwindet

Sag etwas, denn ich beginne, dich aufzugeben
Es tut mir leid, dass ich nicht zu dir durchdrang
Ich wäre dir überall hin gefolgt
Sag etwas, denn ich beginne, dich aufzugeben
Und ich werde meinen Stolz hinunterschlucken
Du bist meine Liebe
Und ich sage Adieu

Die Liebe zum Vergangenen nennen wir die »Nostalgie«, weil »Spinnerei« so ein unhöfliches Wort ist. Nein, ich wollte das lieben, was jetzt ist, was dereinst sein wird, und was Sie und ich teilen können. Es verschwindet, es wird bald verschwunden sein. Sage etwas, lieber Westen! Sage mir, dass es nicht so ist, denn ich bin kurz davor, dir ›Adieu!‹ sagen zu wollen.

Sage etwas, denn ich beginne, dich aufzugeben
Es tut mir so leid, dass ich nicht zu dir durchdringen konnte
Ich wäre dir überallhin gefolgt

Die Leser lesen meine Worte. Irgendwelche Institutionen, denen ich weniger traue als den aufgetauten Koteletts in der Kneipe zwei Straßenecken weiter, sie haben nun begonnen, mich zu nennen. Ich werde von einigen Leuten durchaus gern gelesen und von anderen Leuten wohl gefürchtet; es ist fast lächerlich, denn ich tue buchstäblich nichts mehr und nichts anderes, als in Buchstaben festzuhalten, worauf sich eben meine Liebe, meine Furcht, meine Hoffnung richten.

Ich würde so gern ein ganzes Land an den Schultern packen – ein ganzes Land? Nein, den Westen insgesamt! Ich möchte die Leute an den Schultern packen, ich möchte ihnen zurufen: Es gibt Regeln der Welt und es gibt Zusammenhänge. Eins folgt aus dem anderen, wisst ihr das denn nicht? Ist es euch wirklich egal?

Sage etwas, lieber Westen, denn ich beginne, dich aufzugeben.

Weiterschreiben, Wegner!

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