13.06.2025

Es schlägt anders zu

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild: »Wo bist du, ich?«
Um die Jahrtausendwende bäumte sich Kultur ein letztes Mal gegen den Nihilismus auf. »Matrix« suchte, was es heißt, Mensch zu sein. »Fight Club« fragte, was Männlichkeit (noch) ist. Wo aber ist sie heute geblieben – die Rebellion gegen das Nichts?
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Wenn die jungen Leute von heute sagen wollen, dass etwas sie auf tiefe, geradezu spirituelle Weise berührt hat, dann sagen sie im Englischen: »That hit different!«

Das bedeutet etwa: »Das schlug anders zu«, oder: »Das trifft mich auf überraschende Weise.«

Was die Jugendlichen wirklich sagen wollen, könnte man so ausformulieren: »Das hat mich weit mehr emotional aufgewühlt, als ich es in diesem Medium und in diesem Kontext erwartet hätte.«

Lasst mich ein Beispiel dafür bringen, wo ich just heute erlebte, dass ein simpler Post auf x.com in mir »anders zuschlug«.

… und die Schreie verstummten

Es ist eine auf Englisch formulierte Erkenntnis von jemandem, der sich »Roman Helmet Guy« nennt. (»Kerl mit römischem Helm« – sympathisch!)

Roman Helmet Guy schreibt:

Early 2000’s culture was a desperate gasp against nihilism. “There must be something more!” You see it in movies: Office Space, Fight Club, The Matrix. You see it in music: Evanescence’s Bring Me to Life, Linkin Park’s Numb. Then the iPhone came and the cries fell silent. (@romanhelmetguy, 12.06.2025)

Übersetzt bedeutet das etwa: »Die Kultur der frühen 2000er war ein verzweifelter Aufschrei gegen den Nihilismus. ›Da muss doch noch mehr sein!‹ Man sieht es in Filmen: ›Office Space‹, ›Fight Club‹, ›Matrix‹. Man sieht es in der Musik: ›Bring Me to Life‹ von Evanescence, ›Numb‹ von Linkin Park. Dann kam das iPhone, und die Schreie verstummten.«

Ja, das »hit different«. Oder, umständlicher aber präziser gesagt: Das wühlte mich mehr auf, als ich es im üblichen Kontext von x.com erwartet hätte.

Der Kerl mit dem römischen Helm formuliert eine Wahrheit, die der Auslöser eines tief sitzenden seelischen Schmerzes ist.

Zumindest denkmöglich

Es ist nicht nur, aber auch Nostalgie. Vor einem Monat schrieb ich einen Essay (auch als Video) mit dem Titel »Mehr Nostalgie wagen«.

Ich bin ein bekennender (und begründender) Freund der Nostalgie! Erst gestern habe ich Videoaufnahmen vom Alexanderplatz aus dem Jahr 1989 repostet (@Stinktier18000, 11.06.2025). Der Autor »Stinktier« jenes X-Posts zeigt Bilder junger Deutscher, die einfach nur im Sommer »chillen« und guter Dinge sind. Dazu schreibt er: »So wird es nie mehr sein, oder?«

Jenes Posting aber, das mich »hit different«, es ist mehr als Nostalgie. Es liegt eine tiefe Wahrheit darin.

Ich selbst habe zwei der drei im Posting erwähnten Filme mehrfach in Essays erwähnt. Matrix erwähnte ich etwa im Essay »Demokratie und Simulation«. Fight Club war 2019 die zentrale Inspiration des Essays »Ein merkwürdiger Zeitpunkt in unserem Leben«, dient aber auch als Illustration in Essays wie »Land rappelt sich durch harte Arbeit auf – und dann?« und »Die Hühnerverschwörung«.

Filme wie Matrix und Fight Club transportierten im apokalyptischen Szenario die Botschaft, dass Sinn und Menschlichkeit zumindest denkmöglich sind.

»Trust me«

Matrix suchte nach Menschlichkeit, ja dem Wesen von Menschsein, in und jenseits einer von Maschinen kontrollierten Welt.

Fight Club suchte nach der Bedeutung von Mannsein, in einer Welt, in der Männlichkeit eliminiert wurde. (Im Badewannen-Dialog wird diskutiert, wie Jungen zu Männern werden sollen, die von alleinerziehenden Frauen aufgezogen werden. Und in der Beziehung zu Marla bebildert die Rolle der Frau in einer solchen Welt unverschuldet kaputter Männer.)

Matrix findet die Antwort bekanntlich in einer lose von Jesus inspirierten Messias-Figur namens »Neo«, immer wieder »der Ausgewählte« genannt.

Fight Club findet die Antwort in einer Zerstörung der Banken und einer Mann-Frau-Beziehung inklusive Händchenhalten, und dem Versprechen: »Trust me, everything is going to be fine«. Als Musiktrack: »Where is my mind?« (Wer nach dem Film das erste Mal das Buch »Fight Club« liest, wird wie ich geschockt feststellen, dass während das filmische Ende dann doch gegen den Nihilismus aufbegehrt, der Protagonist des Buches resigniert die Abwesenheit des Sinns akzeptiert.)

Ja, es gab eine Zeit, bis etwa vor Einführung des iPhone, da hatten wir zumindest die Hoffnung, dass Menschlichkeit jenseits unserer Rolle in der sogenannten Konsumgesellschaft möglich ist. Heute klingt ein solcher Satz schrecklich naiv.

Wieder und wieder und wieder

Es gab eine Zeit, in der Ordnung, Glück und sogar Sinn greifbar schienen. Wenn wir nur etwas mehr emotionale Disziplin an den Tag legten, wenn wir nur ein klein wenig mehr bei der Suche anstrengten, würde Es schon zu finden sein (wozu gehört, zu wissen, was dieses Es ist).

Mit der ubiquitären Verbreitung des World Wide Web, mit Smart Phones, Apps und Sozialen Medien lösten sich alle diese Hoffnungen auf. Die Hoffnung auf eine greifbare Menschlichkeit. Die Hoffnung auf ernstzunehmendes Glück. Die Hoffnung auf eine sinngebende eigene Rolle in der Gesellschaft (und damit der Welt), die sich auf irgendeine Weise sinnvoll anfühlt.

Noch vor den Sozialen Medien boten Soziale Medien die Möglichkeit, dass Informationen sich weltweit und sofort verbreiteten. Ich kann mich erinnern, wie wir nach 9/11 die Flugzeuge auf der Website von CNN wieder und wieder und wieder in die Türme krachen sahen.

Da der Mensch aber von Natur aus schlechte Nachrichten eher hören und verbreiten will als gute (eine eigentlich fürs Überleben nützliche Eigenschaft), bildete sich mit dem Internet das innere Bild einer Welt, in der die Menschen unentwegt einander schlimme Dinge zufügen. Wir nannten das Internet »das globale Dorf«, und dieses globale Dorf ist, so wurde uns bald klar, ein reichlich schlimmer Ort.

Videos sprechender Köpfe

Mit Smartphones und sozialen Medien veränderte sich dann sehr grundsätzlich, warum wir welche Inhalte konsumieren. Wir konsumieren Inhalte, um unseren Dopamin-Level hochzuhalten. Es ist schier unvorstellbar, zu sagen: »Das ist anstrengend zu lesen, aber es transportiert wichtige Wahrheit und leitet mich zur Selbsterkenntnis an, also arbeite ich mich durch.« (Unsere letzte Hoffnung ist, dass es Menschen gibt, die das dennoch tun, noch immer. Dostoyevsky, Pynchon und die Lateinische Messe erfreuen sich eines weltweit stabilen und mancherorts wachsenden Freundeskreises.)

Online-Angebote versprechen schnelle Befriedigung des Selbst. Einmal natürlich jene Befriedigung. Und einmal die kulturelle und politische Selbstbefriedigung, wenn du Videos sprechender Köpfe schaust, weil und damit sie dir deine »Meinung« bestätigen.

Das Problem ist allerdings, dass diese »schnelle Zufriedenheit« all die Anstrengungen fortlässt, aus denen wirkliche Zufriedenheit entsteht.

Die schnelle Zufriedenheit

Ein Mensch findet Zufriedenheit, wenn er Teil einer höheren, in seinen Augen wertvollen Struktur ist, und wenn er diese durch eigenes Opfer und spürbare Arbeit aktiv gestützt hat.

Smartphones und soziale Medien versprachen die billige Zufriedenheit. Simulierten die Zugehörigkeit zu einer höheren Sache durch einen simplen »Like«-Klick oder den »Retweet« einer Meinung. Simulierten die verdiente Anerkennung nach harter Arbeit durch billige Herzchen und Daumen-hoch.

Und nun, ein Vierteljahrhundert später, stellen Menschen fest, dass diese Zufriedenheit eben keine ist. Menschen beginnen zu erkennen, dass sie mit einer läppischen, falschen Illusion von Sinn, Glück und echter Zufriedenheit abgespeist wurden.

Manche schlussfolgern daraus, dass Sinn und Glück und tiefe Zufriedenheit nicht möglich sind – willkommen zurück im Nihilismus.

Nein, nicht alle

Ja, viele populäre Kunstwerke vor dem »Siegeszug« von Internet, sozialen Medien und Smartphones stellten ein Aufbäumen gegen den Nihilismus dar. Gegen die These, dass Sinn nicht möglich ist.

Doch natürlich wollen du und ich zu denen gehören, die sich noch immer aufbäumen – noch immer aufbäumen wollen – oder nicht?

Jener X-Post vom Kerl mit dem römischen Helm, der mich »hard gehitted« hat, der mich mehr aufgewühlt hat als gedacht, er erwähnt auch Songs. Zum Beispiel »Bring Me to Life« (siehe YouTube). (Der Refrain jenes Liedes erinnert mich an meinen eigenen Essay zum Tod des Künstlers Avicii, »Weckt mich auf, wenn alles vorbei ist«, im Jahr 2018; auch der dort zitierte Song war ein Aufbegehren gegen das Nichts, für den Künstler leider erfolglos.)

Ich will diesen neuen Essay schließen mit meiner Übersetzung des Refrains jenes Songs »Bring Me to Life« aus dem Jahr 2003, einem Aufbäumen gegen den Nihilismus:

»Weck mich im Inneren auf. Weck mich im Inneren auf, ruf meinen Namen und rette mich vor der Dunkelheit. Befiehl meinem Blut, zu fließen. Bevor ich auseinanderbreche, rette mich vor dem Nichts, das ich geworden bin.«

Ja, auch das schlägt anders zu.

Weiterschreiben, Wegner!

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