Ein kleiner Junge im Karate-Anzug. Er ist konzentriert, er ist bereit. Ein roter Gürtel hält seine Karate-Jacke zusammen. Es ist aber nicht der rote Gürtel allein, der uns an diesem Bild auffällt.
Wir sehen lange, transparente Schläuche. Wir sehen eine Sauerstoffflasche. Die Schläuche sind an seiner Nase befestigt. Und wir sehen zwei Erwachsene, welche die Schläuche halten und sich um den Jungen kümmern.
Dieses bewegende Bild begegnet mir immer wieder im Internet.
Bei Reddit etwa trug das Bild den Titel »This kid is fighting two battles at once«, zu Deutsch: »Dieses Kind kämpft zwei Schlachten gleichzeitig«.
Auf Twitter hatte jemand dazu geschrieben: »Every single excuse you have is bullshit«, zu Deutsch etwa: »Jede deiner Entschuldigungen ist Unsinn«.
Nach recht plausibel klingenden Erklärungen stammt das Foto aus Brasilien. Der Junge leidet wohl an einer seltenen Lungenkrankheit, die es ihm nicht erlaubt, länger als etwa 30 Minuten ohne Unterstützung zu atmen. Auf diesem im Internet zirkulierenden Foto bereitet er sich auf eine »Kata-Präsentation« vor, bei welcher Karate-Kämpfer traditionellerweise allein einen Kampf gegen einen imaginären Gegner vorführen.
Dieses Bild soll den Leser motivieren. Der kleine Junge, der ohne Schläuche kaum zu atmen vermag, ist ein knallharter Karateka. Der Leser soll sich doch bitteschön ebenso einen Schubs geben. Hört auf, dumme »Entschuldigungen« vorzubringen, dass ihr aus diesen oder jenen externen Gründen eure Ziele nicht erreichen könnt.
Nicht mitgesendet
Als ich für einige Zeit beim TV arbeitete, lehrte man mich einen Satz, der mich beim ersten Hören schockierte, doch sich mir gleich darauf so tief einprägte, dass ich ihn heute als wesentlichen Teil meiner Lebensphilosophie zu bezeichnen wage: »Entschuldigungen werden nicht mitgesendet.«
Es konnte passieren, dass ein unerfahrener Reporter vom Dreh zurückkam und ihm schlicht Bilder fehlten. Ein Beispiel: Beim Autotest hatte man vergessen, das Gesicht des Testers zu zeigen, als der Motor des Sportautos aufjaulte – man hatte quasi ein »Reaction-Video ohne Reaction« gedreht.
Der unerfahrene Reporter könnte dann in der Redaktion schnell Entschuldigungen anführen, warum diese Aufnahmen nicht möglich gewesen waren (keine Befestigung im Auto, Batterie leer, et cetera). Der junge Kollege würde hören: »Entschuldigungen werden nicht mitgesendet!«
Den Zuschauer interessieren deine Ausflüchte genau gar nicht, so wurde uns gelehrt. Man wird bestimmt kein entschuldigendes Laufband einblenden (»der Reporter hatte Schnupfen, deshalb fiel das Interview mit dem Protagonisten leider aus und wir zeigen stattdessen Schwenks über die Bürofassade«).
Jeder Mensch, der in einer Disziplin konsistent Leistung erbringen will, stößt auf Probleme und Widerstände. Und doch zeigt sich, dass der eine Menschentypus die Widerstände oft und regelmäßig überwindet, während der andere Typus sich von ähnlichen Problemen auffällig bereitwillig aufhalten lässt – und sich jedes Mal larmoyant darüber beschwert, wie viel Pech er doch wieder mal habe.
Man könnte also sagen, dass der kleine Karate-Kämpfer mit den Sauerstoff-Schläuchen sich tatsächlich nicht von seinem Gesundheitszustand zurückhalten lässt – ja, er ist ein Held. Er führt keine Gründe ins Feld, warum es nicht kämpfen kann, selbst wenn in seinem Fall wohl niemand die Gründe als »Entschuldigungen« bewerten würde.
Und doch, und doch – in jenem Foto ist ein wichtiger Aspekt enthalten, der mir in den Kommentaren fehlt, als wäre er ganz selbstverständlich – das ist er aber nicht!
In anderen Kontexten
Hinter dem Karate-Jungen stehen zwei Erwachsene. Ich vermute, dass es die Eltern sind, vielleicht Betreuer oder Trainer. Man hat eine schwere Sauerstoffflasche auf die Gummimatten gebracht. Man hält dem Jungen die Schläuche, damit sie sich nicht verheddern.
Natürlich ist die Kraft und Ausdauer des Jungen zu bewundern, sich von seiner kaputten Lunge nicht davon abhalten zu lassen, sich via Kampfsport etwas Kontrolle über seinen Körper buchstäblich zurück zu erkämpfen.
Zugleich wäre all das nicht möglich, wenn es nicht Menschen gäbe, die ihn ohne Aussicht auf konkrete Gegenleistung dabei unterstützten.
Unter »normalen« Umständen würde der Junge nicht Karate kämpfen – in vielen anderen Kontexten wäre er schlicht tot. Er ist ein Held, kein Zweifel, und es ist gut, dass er Menschen um sich hat, die sein Heldentum möglich machen.
Ich weiß nicht
Wir bewundern Helden, weil sie für Charaktereigenschaft stehen, die wir für notwendig halten, um das Fortbestehen der Menschheit selbst zu sichern – oder weil die Helden stark sind, wo wir selbst zu oft schwach sind, aber gern stark wären.
Jedoch, ohne sein Team, ohne die vielen Helfer und ohne die Gesellschaft, in welcher er aufwuchs und innerhalb derer oft noch immer agiert, wäre so mancher Held eben keiner.
Sogar ein Ronaldo oder ein Messi können nur dann gewinnen (und »Fußballhelden« sein), wenn ihre Mannschaftskollegen ihnen Bälle zuspielen, und wenn außerhalb des Spielfelds ein Team von Betreuern und Beratern sich um ihre Treffsicherheit kümmert.
Wir dürfen und sollen die Karate-Jungen dieser Welt bewundern, kein Zweifel! Ja, ich hätte gern selbst mehr von solcher Willenskraft und Ausdauer.
Manchmal ist es die Welt, die mir Mauern in den Weg zu stellen scheint. Viel öfter ist es mein eigener Geist, der mich einmauert. Diese Mauern zu überwinden, das kann etwas »Heldentum« erfordern.
Bei allem Heldentum aber, bei allem Drübersteigen, Drunterklettern und Durchhalten, bleibt es doch ein Fakt, dass kein Held ohne sein Team auskommt.
Ich danke all den großen und kleinen Karate-Jungen dieser Welt. Ich bewundere euch und ich will von euch lernen. Euer Vorbild motiviert uns, eben doch weiterzumachen, wo die innere Trägheit uns zu Entschuldigungen treibt.
Ich danke aber ganz besonders auch all den Helfern, die manches Heldentum erst möglich machen. Lasst uns den Helden bewundern – und lasst uns denen danken, welche dem Helden die schwere Sauerstoffflasche auf die Matte bringen!
Ich will heute all jenen Menschen danken, die hinter jedem einzelnen Karate-Jungen die Schläuche halten. – Die Welt ist gerade nicht reich an guten Meldungen, doch ihr gebt mir Hoffnung!