Dushan-Wegner

18.04.2022

Katastrophentoleranz

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Foto von Anton Khmelnitsky
Wir hören täglich von Krisen und Katastrophen. Wir zucken mit den Schultern, wir ertragen es, wir tolerieren. Wir wurden katastrophentolerant. – Und nun?
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Du kannst Hunderte, ja Tausende von Kilometern fahren, ohne dir Gedanken zu machen über den Motor, der dich antreibt – das heißt aber nicht, dass der Motor unwichtig wäre!

Viele Angelegenheiten, an die wir unablässig denken – ein Popstar etwa, oder eine neue Mode – wirken bei näherer Betrachtung furchtbar unwichtig!

Und, andersherum: Manche Angelegenheit, an die wir kaum denken – ein Automotor, die Wasserversorgung oder deine Gesundheit – sind in Wahrheit doch sehr wichtig.

Wann merken wir, dass etwas viel wichtiger ist, als wir ursprünglich dachten? Wenn es plötzlich fehlt!

Eine Angelegenheit, die heute erschreckend vielen von uns fehlt, ist die Motivation.

Gebet, wahr geworden

Die letzten Jahrzehnte waren (in westlicher Kultur) geprägt vom Siegeszug der sogenannten »Guten« – die wirklich Guten aber sind zunehmend demotiviert.

Wir hören vom Krieg, und wir zucken mit den Schultern. Wir hören vom neuen Killervirus, und wir zucken mit den Schultern. Wir hören von blutigen Aufständen in Schweden, und wir zucken mit den Schultern.

Einst beteten wir, Gott möge uns die Kraft geben, zu ändern, was wir ändern können, dazu die Geduld, zu ertragen, was wir nicht ändern können, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Nun, es scheint, dass uns tatsächlich die Weisheit der Unterscheidung gegeben wurde. Wir haben begriffen: Wenn wir nichts ändern können, brauchen wir auch keine Kraft auf fruchtlose Versuche zu verschwenden.

Wir lernen, die Dinge zu ertragen. Ein anderes Wort für ertragen ist tolerieren. Wir ertragen brav die Katastrophen. Sprich: Wir sind katastrophentolerant geworden.

(Nachtrag vom Abend des 18.4.2022: »Es tut mir leid, Ihre Schlussfolgerung ist falsch. Wir HÖREN von Krisen und Katastrophen – SEHEN aber, dass sie NICHT passieren!«, so schreibt ein Leser, und dann bringt er als Beispiel, dass es etwas sehr anderes sei, ob man vom Krieg hört – oder ob einem gerade das Haus weggebombt wurde. Das ist natürlich wahr – doch ich kenne persönlich Menschen, denen selbst Katastrophen passierten, etwa dass sie während der Covid-Panik erst ihr Einkommen, dann ihre Wohnung und unmittelbar darauf ihre (ohnehin kriselnde) Familienbande verloren, und andere, noch grausamere Fälle, und gerade diese Leute sind oft »katastrophentolerant« geworden – denen scheint reichlich egal zu sein, was noch passiert. Natürlich könnte man, wohl nicht nur in diesen Fällen, »katastrophentolerant« auch als sarkastischen Euphemismus für »resigniert« lesen…)

Unsere Empörung und unsere Wut sind ermüdet – und unsere Angst gleich mit. Ja, wäre die Furcht vor der Katastrophe-des-Tages ein Knochen, müsste man uns einen Ermüdungsbruch diagnostizieren.

Mein Großvater hatte mir einst von Soldaten erzählt, die einst im Graben oder in Feldlager schlafen konnten, während unweit der Krieg tobte und Explosionen zu hören waren. Ich habe nie verstanden, wie sie das anstellten! Wenn sich irgendwo im Haus auch nur eine Tür bewegt, werde ich schon wach. – Sagen wir es mal so: Ich stelle heute immerhin fest, dass täglich neue Katastrophen gemeldet werden und wir dennoch gut schlafen – wir sind offenbar katastrophentolerant geworden.

Und dann

Das große Schulterzucken, das Hinnehmen der dauernden Krise, die Gleichgültigkeit gegenüber anderer Leute Leid (und bald: gegenüber unserem Leid), all das klingt ungeheuer passiv und inaktiv, ich weiß, und das so zu sehen wäre nicht falsch, es wäre aber unvollständig: Wir lenken unsere Energie um, weg vom Großen und Ganzen, hin zum Kleinen und Einfachen.

Wir waren motiviert, unsere weiteren Kreise zu verändern und zu verbessern. Wir wollten das Schiefe geraderücken und das Geknickte neu aufrichten. Wir – wie auch unsere Gegner! – nahmen unsere Motivation für selbstverständlich.

Und dann war die Motivation weg.

(Nebenbei: Die linke Spinnerei im Westen geht implizit davon aus, dass es immer Nicht-Linke geben wird, die trotz aller Angriffe und Demütigung unendlich lange motiviert sind, brav zu arbeiten, sich ausnutzen und ausnehmen zu lassen, und auf ewig den linken Wahnsinn zu finanzieren. Was aber, wenn die Motivation der Nicht-Linken eben doch kein Perpetuum-Mobile ist, keine unendlich, unerschöpfliche Energiequelle?!)

Wer eben noch helfen wollte, fühlt sich heute ausgenutzt. Wer eben noch voller Menschenliebe war, fühlt sich heute leer. Wer eben noch ans grundsätzliche Gutsein der Menschen glaubte, an die generelle Sinnhaftigkeit seines Tuns zum Wohl des größeren Ganzen, er fühlt sich heute desillusioniert.

Der uns vorantrieb

»Desillusioniert«, das bedeutet: Von Illusionen befreit.

»Desillusionierung ist Freiheit« – ist das so richtig? (Chuck Palahniuk in Fight Club: »Losing all hope is freedom«.)

Jein.

Wir fühlen uns »frei«, wenn wir mit den uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zufrieden sind.

Richtiger wäre also: Desillusionierung kann den notwendigen Raum für Freiheit schaffen. Janis Joplin singt sarkastisch, Freiheit sei nur ein weiteres Wort dafür, wenn man nichts zu verlieren hat. Die Denkrichtung scheint mir stimmig zu sein.

Aussichtslose Ziele sind doch meist auch sinnlos, und seien sie noch so »edel«. Sinnlose Ziele aufzugeben setzt Kraft und Möglichkeit frei, aussichtsreiche, erfüllende Ziele anzustreben.

Das … fehlt

Der Motor, der uns vorantrieb, er ist bei einigen von uns ausgefallen, und man spürt es – er hat uns lang genug vorangetrieben.

Wir werden neue Ziele brauchen, wahrscheinlich kleinere und private Ziele. Wir werden die Kreise und relevanten Strukturen kleiner ziehen müssen.

Der Motor ist kaputt? Ach nein, nicht wirklich. Das Ziel fehlt. Wir brauchen neue Ziele, neue Aufgaben, neue Relevanz, dann wird auch der alte Motor neu anspringen, als wäre er neu, als wären wir neu, als wäre alles neu!

Weiterschreiben, Wegner!

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