Letztens, da saß ich im Konzert. Allein, da es unter der Woche war, und der Sohn war eh mit Kumpels unterwegs. (Bei McDonald’s gab es an dem Tag ein Geschenk zum BigMac-Menu, und dieses zudem billiger.)
Ich liebe Kammermusik! Zwei Violinen, zwei Violas und zwei Celli. (Ein Sextett von Strauss, eines von Spohr und eines dann von Tschaikowski – das allerdings nach der Pause.)
In der Pause blieb etwa die Hälfte von uns im Saal. Die Pause diente dem Luftholen vor Tschaikowski. (Aus Tschaikowskis Briefen wissen wir übrigens, dass Pyotr Ilyich Tschaikowski ein großer Freund von Katzen war. Er schuf seine Werke, während seine Katzen um ihn herumschnurrten. Ähnlich auch Hemingway, Monet, Picasso, Matisse, Twain … ich stimme vollumfänglich dem Schriftsteller Robert A. Heinlein zu, welcher schrieb: »Wie wir uns hier unten gegenüber Katzen verhalten, das bestimmt unseren Status im Himmel.«)
Bereit für den Russen
Diejenigen von uns Kunsthungrigen also, die in der Pause im Saal blieben, was taten wir? Wir streckten uns natürlich, um dem Minimum an Pausenzweck nachzukommen, den Blutkreislauf und so weiter aufnahmebereit zu machen für … Tschaikowski. (Darf man Tschaikowski heute überhaupt noch spielen? Tschaikowski sagte ja mal, er sei: »Russe, Russe, Russe bis ins Mark meiner Knochen« – ist das nicht blanke Putin-Propaganda? Vor sieben Jahren spielten die WDR-Musikanten noch selbst ebendieses Opus-70-Sextett, das wir auch an jenem Abend hören sollten; das belastende Beweis-Video findet sich noch bei YouTube. Ach ja, so wandeln sich die Zeiten! Vor einigen Jahren wusste ja auch ein Georg Restle noch dies über den Donbass zu berichten: »In der ukrainischen Regierung haben die Falken die Macht übernommen, und das heißt nichts Gutes«. Der gute Herr Restle forderte, man solle »der ukrainischen Regierung in den Arm fallen«, und zwar der Zivilisten wegen; das belastende Video ist aktuell noch bei tagesschau.de!)
Nach der Sitzgymnastik und einem höflichen Minimum an Kommunikation mit dem Sitznachbarn (»Sehr schön, die Geigen!«), zückten die meisten von uns ihre Smartphones. Ich selbst scrollte durch die neueste Dystopie-Unterhaltung auf Reddit. (Zum Beispiel /r/singularity, /r/ABoringDystopia/, /r/lostgeneration … und zur Seelenhygiene dann natürlich /r/MadeMeSmile.)
Tatsächlich … schamlos!
Dann aber wurde ich aus dem Studium der neuesten UFO-Meldungen und Katzenbilder gerissen, und zwar auf jene Weise, die der Germane »jäh« nennt. Meine Augen sahen aus ihrem Winkel, was das Paar in der Sitzreihe vor mir auf ihren China-Androids geistig zu sich nahm. (Wahrlich, hätten diese Leute ein Lily-Phillips-Video zur Prä-Tschaikowski-Stärkung genossen, ich wäre weniger erschüttert gewesen.)
Er (graue Haare, im besten Alter, Jeans und Jackett) scrollte ohne jede Scham erst ausgiebig durch spiegel.de, dann durch sueddeutsche.de. Und sie (entsprechend) scrollte während der gesamten Pause durch bunte.de! Und sie taten es in aller Öffentlichkeit, sodass alle es sehen konnten! Diese Leute lasen Spiegel und Süddeutsche und Bunte, zeigten ihre intellektuelle Blöße, und wie es schon in der Bibel heißt: »Der Mensch und seine Frau schämten sich nicht«.
Die andere, rastlose Hälfte des Publikums, welche sich eben doch zu Beginn der Pause zwecks eines aktiveren Beinestreckens ins Foyer begeben hatte, begann nun den in der Pause dreiviertelleeren Saal wieder aufs vorherige Dreiviertelvolle aufzufüllen – angeschickert vom 3-Euro-Pausen-Prosecco und also ebenfalls bereit für Tschaikowski.
Verrottender Mittelstand
Ich aber war so nüchtern wie erschrocken. Erschrocken ob einer Erkenntnis, die ich zwar theoretisch und abstrakt bereithalte, die aber zu erleben mich aufs Neue erschütterte: Die beiden Herrschaften vor mir waren sympathisch und kulturnah, vermutlich formal gebildet. Der Kleidung und der Gelegenheit nach vermutlich gut situiert. Die beiden Leute brachten alles mit, was es braucht, um Rückgrat der Gesellschaft zu sein, tragendes Fundament, Motor und Eckstein, welche positiven Sprachbilder man auch verwenden mag.
Doch die gewohnheitsmäßige Lektüre dieser beiden Kammermusikfreunde war das Mittelschicht-Äquivalent zu TikTok-Videos. Deren Nachrichtenquellen sind die fake-seriöse Ausstülpung dessen, was die Jugendlichen heute »brain-rot« nennen: das aktiv eingeleitete Verrotten des Gehirns durch toxischen Infomüll.
Und solche Leute dürfen wählen – wählen und so unser aller Zukunft kaputtmachen!
Solche Leute wurden in einer Zeit groß, als »Die Zeit« noch nicht die unlesbare Karikatur ihrer selbst war. Und vor allem: Sie wuchsen in der Überzeugung auf, dass die Politik insgesamt das Wohl des Landes anpeilt. Wer fleißig ist und sich ansonsten fügt, so lehrte man sie, um den wird sich das Schicksal schon kümmern, zum Guten hin. Also lesen sie auch weiter die Lektüre des braven Untertanen, der deutschen Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank der Globalisten.
In den Abgrund
Endlich spielten sie den Tschaikowski auf. Sehr schön, die Geigen! Komponieren konnte er, dieser Russe-bis-ins-Mark-seiner-Knochen. Wenn auch mein Schrecken über die Naivität dieser beiden sonst so sympathischen Herrschaften groß war, ich tat doch mein Bestes, meine Seele mit dem Schnurren der Streichinstrumente wieder zu besänftigen.
»Die eine Sache, die einen Tag verderben kann, sind Leute«, so schreibt Katzenfreund Hemingway. Es ist witzig, weil es ebenso wahr wie schmerzhaft ist.
Doch es gilt auch im Großen: Was ein Industrieland so gründlich verderben kann, sind Leute, deren Lebenserfolg auf Denk- und Verhaltensweisen basiert, die heute, in einer veränderten Welt, das Land in den Abgrund bringen werden.
»Geschichte ist nie überraschend – nachdem sie passiert ist«, so schrieb Robert Heinlein. Ich würde ja gern Trost darin suchen, dass solche Leute zumindest von der Geschichte überrascht werden.
Doch ich ahne, dass Süddeutsche und Spiegel die sympathischen Kammermusikfans auch weiterhin davon überzeugen werden, dass das, was vor ihren Augen passiert, gar nicht wirklich passiert.