Dushan-Wegner

12.01.2023

Kein Leben »ohne Drogen«, sondern …

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten
Wir lesen in den Nachrichten, was für schlimme Dinge im Umfeld von Drogen passieren. Letztens wurde ein elfjähriges Mädchen getötet. Frage: Was sind das für menschliche Abgründe, die diesen ganzen Markt erst möglich machen?
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Die Chancen stehen gut, dass Sie in Ihrem Leben mindestens einmal auf einem Balkon standen.

Und als Sie also so da standen, auf dem Balkon, und als Sie womöglich in die Ferne blickten, was befand sich da zwischen Ihnen und der Tiefe?

Es war eine Balustrade, ein Balkongeländer. Es erscheint wie eine Selbstverständlichkeit, doch denken wir für einen Augenblick nach, was der Zweck dieser lebenswichtigen Technologie namens »Geländer« ist!

Man könnte meinen, dass das Geländer den Balkongenießer vorm Fall schützen soll, doch warum soll es das? Das Fallen ist doch nicht gefährlich! Es ist bekanntlich das plötzliche Abbremsen bei Kontakt mit dem harten Boden der Realität, der die Knochen mit den Organen vermischt.

Es gäbe ja Alternativen zum Geländer, mit denen man verhindert, dass der Knochen-Kopfsteinpflaster-Kontakt ganz so katastrophal ausfällt! Man könnte weiche Bettdecken auf der Straße unterhalb des Balkons anbringen, vielleicht sogar ein Trampolin!

Man könnte auch auf Geländer und Matratzen gleichermaßen verzichten, und stattdessen einen Rettungssanitäter samt Rettungswagen auf der Straße positionieren, der die Gefallenen von der Straße kratzt.

Ja, bald könnte sich sogar herausstellen, dass das Aufkratzen der Leute von der Straße ein lukrativeres Geschäft darstellt als der Bau von Balkongeländern, und so würde »der Markt« auch für die Geländerfrage seine ganz eigene Lösung gefunden haben.

Bauherren wären froh, das Geld für den Bau von Geländern einzusparen. Die Bewohner wären froh über die nun unverstellte Aussicht.

Okay, für die Sturzopfer wäre es etwas doof, aber war das nicht deren persönliche Freiheit, vom Balkon zu fallen? Muss man wirklich die Freiheit der übrigen Millionen Balkonbewohner einschränken, weil ein paar Leute nicht mit ihrer Freiheit klarkommen?

Jede Hilfe zu spät

Mit Werken wie dem Buch »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« (1978, siehe Wikipedia) oder dem Lied »Am Tag als Conny Kramer starb« (1972, auf YouTube) wurde auch dem deutschen Otto Normalbürger vor Augen geführt, mit wie viel Leid der Konsum harter Drogen verbunden ist.

Heute ist es Allgemeinwissen, wir nehmen es kaum als besonders wahr – außer die Brutalität der Gewalt ist selbst für die Verhältnisse des Drogenmilieus ungewöhnlich.

Aus Antwerpen wird aktuell der Fall einer Schießerei berichtet, deren Motivation und Täter vermutlich im Drogenmilieu zu suchen sind. Das allein ist noch nicht ungewöhnlich, ich weiß. Das Schockierende ist, dass diesmal ein elfjähriges Mädchen zu Tode kam.

focus.de schreibt am 10.1.2023: »Ersten Berichten zufolge handelt es sich bei der getöteten Elfjährigen um die Nichte eines berüchtigten Drogenschmugglers.«

Die Familie, darunter der Vater und zwei weitere Töchter wurden leicht verletzt, so die Meldung, doch »für das jüngste Mädchen kam jede Hilfe zu spät«.

Wen meint er?

So erschütternd es ist – ich stelle mir eine weitere Frage: Harte Drogen sind ja nicht die einzige Ware, die zu handeln verboten ist. Bei anderen verbotenen Handelswaren, wir denken an exotische Tiere oder gewisse Kulturgüter, ist der Handel auf eine relativ winzige Nische der Gesellschaft beschränkt.

Harte Drogen aber richten sich an die Gestrauchelten aller Teile des Volkes.

Und: Harte Drogen finden sich ihren Weg zum Kunden, und selbst wenn dafür buchstäblich ein paar Menschen über den Haufen geschossen werden müssen.

Warum?

Dass Drogen etwas ganz anderes sind als seltene Papageien etwa, das scheint so selbstverständlich, dass die meisten Menschen dem zustimmen würden, ohne einen Anlass zu sehen, den Grund dafür weiter zu untersuchen.

Die spannendsten Fragen der Philosophie sind aber oft jene, welche vermeintlich Selbstverständliches, das im Alltag nicht weiter hinterfragt wird, eben doch hinterfragen.

Eine solche vermeintlich »banale« Frage, die durch nähere Untersuchung bald unergründlich scheint, lautet etwa: »Wenn ich ‚ich‘ sage, wer ist es, der da redet, und wen meint er?«, oder, kürzer: »Wer bin ich?«

Eine andere nur auf den ersten Blick »selbstverständliche« Frage ist die nach Gut und Böse. Bis auf wenige Psychopathen haben die meisten Menschen ein ganz selbstverständliches »Bauchgefühl« dafür, erstens dass es Gut und Böse gibt, und zweitens was gut ist und was böse. (Ich halte die Frage nach der menschlichen Bewertung als Gut oder Böse für derart wichtig, dass ich mich einen guten Teil meines Lebens damit beschäftige, und mein Buch dazu heißt bekanntlich »Relevante Strukturen«.)

Und, ähnlich wie die Frage nach dem Wesen von »Ich« oder dem Wesen von »Gut und Böse«, so scheint mir auch die Frage, warum Menschen harte Drogen nehmen, erst banal zu scheinen (»es fühlt sich halt gut an«), und dann bei näherem Erforschen an die Abgründe des Menschseins zu führen.

Besser zu fühlen

Als spontane Antwort auf die Frage, warum Menschen harte Drogen nehmen, könnte auch ich angeben: »Die haben das einmal probiert, und dann wurden sie halt süchtig …«

Nun scheint mir die spannende Frage weniger zu sein, warum sie es »probierten«. Wer kann denn schon einen guten Grund nennen für alles und jedes, das er im Leben so probierte? – Die Frage ist, warum Menschen dranbleiben!

Ich bin mir dessen bewusst, dass in einem Menschen viele und verschiedene biochemische Vorgänge ablaufen, die ihn zur wiederholten Einnahme von Drogen bewegen. Der Drogenkonsument jedoch – selbst wenn er Arzt oder ein anderer Fachmann sein sollte – wird diese Vorgänge kaum als seine Motivation angeben, warum er die Drogen einnimmt.

Von Haschisch über Himbeergeist bis Heroin – die einfachste Begründung zur wiederholten Einnahme von Drogen ist schlicht die, dass man sich mit Drogen besser fühlt als ohne.

Die Logistik südamerikanischer Kartelle, die Milliardenindustrie legaler Psychopharmaka, und Weltkonzerne, die Alkohol in verschiedenen trinkbaren Lösungen verkaufen – all diese hoch professionellen Maschinerien, teils legal, teils illegal, bedienen ein denkbar schlichtes und menschliches Verlangen, nämlich den Wunsch, sich für einige Momente etwas besser zu fühlen.

Ihr profitables Produkt

Ich wage die These, dass die meisten Menschen, die harte Drogen nehmen, zuvor zumindest einmal hörten, dass das gefährlich ist.

Jedoch, an irgendeinem Punkt dachten sie, mindestens implizit: »Ja, es ist gefährlich, doch vielleicht ist es ja noch immer besser als das hier

Und dann probieren sie es.

Und dann stellen sie fest, dass das Wohlgefühl buchstäblich ein Hundertfaches oder sogar Tausendfaches des »Normalwohlgefühls« sein kann. (Man kann es medizinisch messen, wie Drogen die für verschiedene Glücksgefühle zuständigen Hormonrezeptoren manipulieren.)

Wenn ich vom Kampf des Staates gegen Drogen höre, dann denke ich an bewaffnete Polizisten, die Drogenverstecke hochnehmen. Und ein wenig denke ich auch an hilflose Soziologen, die desinteressierte Schüler über die Gefährlichkeit von Drogen aufklären und Broschüren in Fake-Jugendsprache verteilen. Und ich denke an Politiker, die sich gern mit dem Bier- oder Weinglas in der Hand fotografieren lassen, aber dem Volk den Joint verbieten wollen.

Unser Drogenkampf erinnert mich an die absurde Situation, die Balkone ohne Geländer lässt, um sich vor allem darauf zu konzentrieren, die Leute von der Straße zu kratzen.

Menschen »fallen« in die Drogensucht, weil Drogen ihnen mit allen Konsequenzen als noch immer wünschenswerter erscheinen als das Leben ohne den Rausch.

Ein »Balkongeländer« gegen Drogensucht könnte die Ordnung des eigenen Lebens sein, ein Gefühl von genügend Kontrolle und der realen Möglichkeit, sein Leben nach eigenem Gusto zu ordnen.

Jedoch, zu vieles, das den Menschen seit jeher etwas Glück und dafür die notwendige Stabilität bescherte, wird von Politik und Propaganda gering geschätzt oder sogar aktiv bekämpft, Familien zerbrechen, die Zukunft ist unsicher, und die Heimat ist keine Heimat mehr – die Menschen werden geradezu »vom Balkon geschubst« – und dann wundert man sich, warum es so viele Menschen so sehr zum chemischen Glück zieht, dass also der Bedarf derart hoch ist, dass die Lieferanten das Risiko auf sich nehmen, ihr Vertriebsgebiet für ihr profitables Produkt mit Waffengewalt zu verteidigen.

Ordne …

Ich selbst kann den Menschen nicht helfen, die bereits »vom Balkon gefallen« sind. Ich kann gewiss nicht einschreiten, wenn Drogenhändler in den Krieg um Vetriebsgebiete ziehen – sogar die lokale Polizei scheint weltweit bisweilen Angst zu haben.

Ich selbst kann nur für mich festlegen, was meine »Balkongeländer« sein sollen, die mich davon fernhalten, »vom Balkon zu fallen«, sprich: diese Drogen auch nur zu »versuchen«.

Jedoch, der erste Sinn der »persönlichen Drogenprävention« ist meines Erachtens nicht, keine Drogen zu nehmen; sonst hätte man diesen Essay auch in zwei Teilsätzen abhandeln können: »Drogen sind gefährlich, also lasst es sein.«

Ich stelle für mich diese Regel auf: Lebe nicht ein »Leben ohne Drogen«, sondern ein Leben, das von sich aus genug Glück bereithält, sodass Drogen dein Leben schlechter machen würden.

Oder, in der Sprache der relevanten Strukturen gesagt: Ordne deine Kreise!

Weitermachen, Wegner!

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