26.12.2024

Ich habe kein Verständnis und bitte um eures

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild: Postweihnachtliches Selfie
Habt ihr noch Verständnis für eure Mitmenschen? Wenn jemand die Tagesschau nachplappert oder sein Gehirn scrollend frittiert, könnt ihr das (emotional/ lebenstechnisch) nachvollziehen?
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Es gibt Sachverhalte, die ich auf einfache, gewöhnliche Weise nicht-verstehe. Zu diesen zählen etwa die höhere Mathematik oder Quantenphysik oder natürlich das schöne Geschlecht.

Wir unterscheiden verschiedene Zustände des Verstehens nicht nach dem Grad ihrer Intensität. Entweder ich verstehe etwas, oder ich verstehe es nicht. Und wenn ich sage, ich hätte es halb verstanden, dann habe ich die Hälfte der Komponenten verstanden, die dann aber ganz, und die andere Hälfte nicht, und die entsprechend ganz nicht.

Das einfache Verstehen hat allerdings einen empathischen Bruder. Der weist durchaus eine Intensität auf, und die Skala dieser Intensität reicht sogar ins Negative! Dieser emotionale, empathische und also aufregende Bruder des Verstehens ist: das Verständnis.

Verstehen bedeutet, über ein inneres, praktisch zugängliches Modell für Fakten und Zusammenhänge eines Phänomens zu verfügen. Zu wissen, was bezüglich einer Sache der Fall ist, wie etwas funktioniert und was man tun kann, um bestimmte Ziele in dieser Angelegenheit zu erreichen – all das bedeutet, dass man versteht.

Im Alltag könnte man schon mal die Wörter »Verstehen« und »Verständnis« vertauschen, doch wir verstehen die Unterschiedlichkeit der Begriffe.

Rechnungen vs. Socken

Verständnis ist das emotionale und empathische Nachvollziehen der vermuteten Motivationen eines Mitmenschen.

Verständnis bedeutet nicht, dass ich den Zusammenhang mit der vermeintlich auslösenden Faktenlage ganz verstehe. (Ich empfinde Verständnis für das Kind, das ganz doll schlimm weint ob seiner Enttäuschung über die Notwendigkeiten des Lebens, denn mir geht es nicht selten ähnlich, wenn es auch bei mir eher von Rechnungen, Bürokratie und Wahlergebnissen ausgelöst wird, nicht von der Pflicht, sich Socken anzuziehen.)

Verständnis bedeutet wahrlich nicht, dass ich immer genauso reagieren würde oder gar die Tat guthieße. Aktuelles Beispiel ist etwa der Mord an dem US-Krankenkassen-Boss Brian Thompson. Millionen Menschen weltweit empfinden Verständnis für die Tat, auch wenn sie diese selbstverständlich nicht gutheißen.

Anders als der Mangel an Verstehen ist der Mangel an Verständnis interessanterweise sehr schmerzhaft. (Für die Weisen und Gelehrten ist auch der Mangel an Verstehen schmerzhaft, doch das ist ein anderes Thema.)

Es tut uns geradezu weh, wenn ein Mensch etwas sagt und tut, dessen emotionale Motivation wir nicht nachvollziehen können.

Eines bekanntes Beispiel für den offenbar schmerzenden Mangel von Verständnis (auch wenn das Wort »verstehen« genutzt wurde), stammt von der SPD-Lokalpolitikerin Elfie Handrick, welche im Kontext von AfD-Wahlerfolgen sagte: »Ich finde es aber auch nicht richtig, dass man da immer die Sorgen und Nöte der Bevölkerung ernst nehmen muss. Was haben die denn für Sorgen und Nöte? Ich versteh’ das nicht! Ich kann das nicht verstehen!« (siehe YouTube)

Politiker (aber auch Journalisten) haben kein Verständnis für die »Sorgen und Nöte« der Menschen, die können unsere Motivation emotional nicht nachvollziehen (und dürfen es wohl auch nicht).

Der auch für diese Leute spürbare Unterschied in der inneren Verfasstheit bereitet denen Schmerzen, und zwar aus gutem Grund: Sie ahnen, dass ihr Mangel an Verständnis auf ein tiefer sitzendes Problem hinweist.

Daher schlicht gefährlich

Es ist zunächst ein evolutionär korrekter Impuls, nachempfinden zu wollen, warum der andere fühlt und handelt, wie er es eben tut. Und es ist sinnvoll, darunter zu leiden, wenn man kein Verständnis aufbringen kann.

Der »Zweck« von Emotionen ist doch, die Mitglieder eines Stammes zu konstruktivem Verhalten zu lenken. Grundsätzlich unterschiedliche Motivationen und emotionale Konstellationen sind daher schlicht gefährlich. Je größer die Distanz zwischen ihm und mir, umso gefährlicher und also schmerzhafter.

Wenn ich feststelle, dass mir für einen anderen Menschen das Verständnis fehlt, dann darf man das durchaus eine Krise nennen. Etwas stimmt nicht, aber was genau?

Jeder Mensch wird natürlich zunächst davon ausgehen, dass die Fehlstellung beim anderen liegt. Ist doch klar: Der andere muss seine Emotionen neu justieren, damit ich mit den meinen klarkomme.

Theoretisch ahnen wir ja, dass es doch ein arg merkwürdiger Zufall wäre, dass ausgerechnet wir selbst es sind, die richtigliegen – praktisch tun wir uns aber schwer damit, diese Möglichkeit stets präsent zu haben.

Dem Sinn die Nützlichkeit

So begriffsanalytisch und theoretisch dieser Text bis hierhin wirken mag, tatsächlich ist dies einer meiner persönlichsten überhaupt.

Wer mich persönlich trifft, der weiß, dass ich ein unangenehmer Umgang sein kann – und zwar aus demselben Grund, warum meine Texte ihre Leser finden.

In mir »tickt« unablässig das Bewusstsein, dass des Menschen Tage begrenzt sind, und ich frage mich: Gibt das, was wir jetzt tun, wirklich Sinn?

Mein »Sinn« ist, nach Sätzen zu suchen, die wahr sind und meinen inneren Zustand des Tages beschreiben. Wenn ich es gut formuliere, finden sich Menschen, denen es ganz genauso geht, und das gibt dem Sinn die notwendige Nützlichkeit.

Und auch in der wertvollen Zeit mit meinen Kindern, wenn wir nicht gerade Die Siedler von Catan spielen oder wie gestern ein Weihnachtskonzert besuchen, dränge ich sie zu Fragen wie jener, was sie wirklich mit ihrem Leben anfangen wollen.

Der Auftrag der Griechen, »Erkenne dich selbst«, er ist mir Sinn. Wer mich von dessen produktiver Befolgung abhalten wollte, wäre mir ein Mörder, und wer es mir auch nur erschwert, ist mir ein Gewalttäter.

Ich will gestehen, dass es mir mit Menschen, die nicht nach »Sinn durch Erkenntnis« suchen, sehr ähnlich geht wie der SPD mit Menschen, die Sorgen und Nöte haben.

Auf dass wir klug werden

Mir fehlt das Verständnis für Menschen, die doch darum wissen müssen, dass unsere Zeit begrenzt ist, und die doch beschließen, ihre Zeit mit Dingen zu vergeuden, die sie nicht klüger werden lassen.

»Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!«, so lässt Jesaja die rufen, die er anklagt. Wie unterschiedlich es doch sein kann, was Menschen aus derselben Tatsache schließen. Der Psalmist bittet, von selbem finalen Sachverhalt ausgehend: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.«

Es gibt Sachverhalte, die verstehe ich nicht, weil mir der Charakter dazu fehlt, und so manche Wissenschaft zählt dazu.

Es gibt Menschen, für die habe ich kein Verständnis, doch ich hätte das Verständnis gern (idealerweise mit der gleichen Motivation), etwa für jene lieben Leute, die Morgen für Morgen extra früh aufstehen und joggen gehen.

Doch für jene, welche nicht täglich um Erkenntnis und wahrestmögliche Sätze ringen, habe ich kein Verständnis – und für die will ich auch kein Verständnis haben. Die bedrohen den Stamm, dem ich mich zugehörig fühle.

Die habe ich nicht

Wer im Bewusstsein seiner Endlichkeit seine Zeit verschwendet, für den habe ich schmerzhaftes Unverständnis.

Ich verstehe es vielleicht sogar auf einer Ebene, denn es hat mit Wohlstandsverwahrlosung und Trägheit zu tun.

Doch Verständnis für Leute, die ihre Lebenszeit nicht für Erkenntnis nutzen, habe ich nicht.

Jeder Tag kommt nur einmal und jedes Jahr wie jede Stunde auch. Suchst du Sinn oder lenkst du dich bloß von deiner Sinnlosigkeit ab?

So bin ich, und selbst wenn ich könnte – ich habe es durchdacht –, ich wollte hierin nicht anders sein.

Ich bitte um Verständnis.

Weiterschreiben, Wegner!

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