16.12.2024

Kein Vortrag über Deutschland

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild: »Deutsche(s) Wesen, denkend«
Wie soll man über Deutschlands Zukunft reden, dabei aber realistisch und zugleich nicht pessimistisch sein? Es ist schwierig. Prognose: »Das Deutsche« wird überleben, als Denk- und Bildungstradition – und zwar weltweit, zu aktuellsten Themen.
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Ich solle einen Vortrag halten, so bat mich ein lieber Leser. Einen Vortrag darüber, wie es um Deutschland und unsere Zukunft steht. Ich verstand, was erwartet wurde.

Ein populärer Vortrag zu politischen Themen erfordert drei funktionale Abschnitte:

1. Abgeholt werden: Zu Beginn will der Hörer auf milde Weise überrascht, also mit etwas Neuem konfrontiert werden – scheinbar paradoxerweise will der Zuhörer das Gefühl bekommen, »daheim« zu sein. (Zu einem solchen Zweck geeignet sind natürlich Scherze oder der Bezug auf gemeinsame Erlebnisse – etwa ein Fußballspiel vom vorherigen Tag.)

2. Information: Der Zuhörer erwartet dann eine Reihe von Informationen, denen es auf scheinbar magische Weise gelingt, sein Weltbild zu bestätigen und doch zugleich seinen Informationsstand zu erweitern. (Etwa: »Wir sind uns einig, dass Pharmafirmen böse sind; und hier sind noch 10 weitere Belege dafür.«)

3. Applauszeile: Im Buch »Talking Points« widme ich ein Kapitel der polit-rhetorischen Technik »Applauszeile«. Nicht nur als Politiker, auch als Publizist – gerade als freischaffender Essayist – ist man auf gelegentlichen Applaus angewiesen.

Eine Applauszeile nenne ich Formulierungen, die als vorderstes Banner auf einer Demonstration getragen werden könnten. Die Applauszeile lädt dazu ein, sich hinter dieser – und damit hinter den Redner – einzureihen. (Deshalb drängt es frenetisch Applaudierende innerlich dazu, aufzustehen oder mit den Füßen zu trampeln, und dazu »zivilisierte« Varianten von Kriegsgeschrei zu produzieren. Es sind unbewusste (?) Vorbereitungen für den Aufbruch in eine Schlacht.)

Sie sehen, ich weiß, wie es geht. Aber ich wollte zu anderen Themen sprechen. Etwa über die Kunst, in einer wahnsinnigen Zeit nicht selbst wahnsinnig zu werden – zum Beispiel, indem man sich seiner relevanten Strukturen bewusst wird. Über ewige Aufträge wie »Erkenne dich selbst« und über neue Themen wie »AI-Agents«. Lasst mich erklären …

Auf dem Weihnachtsmarkt

Was würde denn von mir erwartet, wenn ich einen Vortrag über die Zukunft Deutschlands hielte? Womöglich eine Wahrheit und Prognose, die ich auch mit Verbiegen und Augenzukneifen nicht mit der Faktenlage in Einklang zu bringen vermag.

Betrachten wir zunächst diese beiden Fakten, als zwei Beispiele:

  1. Die Geburtenrate in Deutschland sinkt weiter, liegt aktuell bei 1,35 Geburten pro Frau (destatis.de, 17.7.2024) und damit selbst unter Einbeziehung der Mütter mit »Migrationshintergrund« weit unter den statistisch notwendigen 2,1 Geburten zur Erhaltung der aktuellen Zahl.
  2. Im Jahr 2023 sind 1.933.000 Menschen nach Deutschland gezogen und 1.270.000 fortgezogen (destatis.de, 27.5.2024). Studien zeigen immer wieder, dass die Mehrheit der deutschen Auswanderer akademisch Hochqualifizierte sind (zeit.de, 4.12.2019).

Nehmen wir dazu die Vermutung, dass ein guter Teil der wählenden Bevölkerung schlicht von ARD und ZDF gehirngewaschen ist und sehenden Auges das Ende ihres Landes in seiner bisherigen Form wählen werden, aus anerzogener Angst davor, als »rechts« und damit als ungehorsam zu gelten. Die Mehrheit der (wählenden) Deutschen will noch immer Untertan sein, und der in der Wolle gewirkte Untertan wählt »weiter so«.

Was sind die logisch absehbaren Entwicklungen dieser Fakten und Einschätzungen? Die Antwort muss man nicht in die Zukunft zeichnen. Die Zukunft kann man schon heute auf dem Weihnachtsmarkt begutachten, wenn »Allahu Akbar« statt »Stille Nacht« erklingt (so bild.de, 14.12.2024).

Und dazu eine Rente

Ich erlebe immer wieder, wie wohlmeinende Männer mit der Autorität ihres Lebenswerks sagen, dass sie es einfach nicht akzeptieren wollen, dass es keine Chance mehr gäbe. Was bedeutet das aber für die realistischen Möglichkeiten des Landes?

Ja, du kannst ein erfolgreicher Ingenieur, Arzt oder Unternehmer sein, drei Häuser besitzen, Aktien im dreistelligen Wert und dazu eine Rente, die ein Vielfaches meines Essayisten-Einkommens beträgt, und du kannst es gewohnt sein, dass dein Erfolg all deinen Behauptungen große Autorität verleiht – dies alles ändert nichts daran, dass du entweder die Demokratie abschaffst und tatsächlich eine »rechte Diktatur« errichtest – was ja keiner will –, oder dass die blanke Mehrheit deiner Mitbürger brav (weiter) im Wahllokal für das Ende von Deutschland als Land-der-Deutschen stimmen wird. (Und da reden wir gar nicht von der inzwischen offenen De-Industrialisierung Deutschlands im Namen von »Klima«.)

Wenn du die einzige inhaltliche Oppositionspartei wählen willst, um ein »Zeichen zu setzen«, dann tu das. Immerhin ist es ehrlich und nicht Heuchelei wie Langstreckenflieger und SUV-Fahrer, die zum Ablass die Grünen wählen. Doch rechne die Chancen realistisch aus, dass die AfD wirklich die deutsche Geburtenrate hochschnellen lässt, zugleich Remigration anschiebt, Atomkraftwerke wieder hochfährt, nebenbei die Bürokratie und die Abgabenlast drittelt, während sie den Schwerpunkt des deutschen Bildungswesens von Gendergedöns und Gleichschaltung zurück zu Ingenieurwesen und Wissenschaft verlagert.

Nicht berechtigterweise

Nein, ich will nicht über Deutschlands Zukunft reden, wenn und weil zum Schluss eine positive Applauszeile verlangt wird. Man kann als Nicht-Linker nicht berechtigterweise Merkels »Wir schaffen das« anklagen und dann zwingend ein eigenes »Wir schaffen das« einfordern.

Die Frage der Zukunft Deutschland ist pragmatischerweise mittelfristig abgehakt, auch wenn nicht wenige (auch »Rechte«) davon leben (finanziell und/oder emotional) so zu tun, als gäbe eine realistische Zukunft. Die realistische Chance, dass Deutschland bei der aktuellen Entwicklung noch lange ein Gebilde bleibt, dass unserem Bundesrepublik-Deutschland-Begriff entspricht, berechne ich als … überschaubar. Selbst ohne allen ökonomischen Suizidalismus ist es eine Frage der demografischen Mathematik. (Wobei die Entwicklung im Ländlichen natürlich verzögert verlaufen kann. Aber: Dort ist es zwar angenehm als Wohnort, aber gesamtkulturell ist das Ländliche weitgehend irrelevant.)

Auch Deutsche im Herzen

Es gibt etwas sehr Wertvolles, das nicht »abgehakt« oder »logisch zwingend vorüber« ist, und zwar: das Deutsche. Und dass das Deutsche in der Diaspora überlebt, ist keine »Zukunftsmusik« mehr. (»Zukunftsmusik«, was für ein schönes deutsches Wort! Für viel mehr schöne deutsche Wörter siehe meinen Essay »Geisterfahrerin braucht Gas«.)

»Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen«, so sagt Jesus (Matthäus 18:20). Und die Blasphemie sei erlaubt, diesen Gedanken auch auf jedes Treffen an irgendeinem Ort der Welt anzuwenden, an dem sich Menschen treffen, um in deutscher Denk- und Bildungstradition über ewige wie auch aktuelle Fragen zu grübeln. Wo sich zwei oder drei Deutsche treffen und über aktuelle Themen auf bewährte, solide, deutsche Art reden, wo sie gemeinsam klüger werden wollen, da lebt das Deutsche fort. (Hier schließe ich wohl auch »Deutsche im Herzen« ein: Ich habe im Leben mehr amerikanische als deutsche Immanuel-Kant-Fans getroffen – und Nietzsche-Experten erst!)

Ich lehnte den Vortrag nicht ab. Ich schlage aber hiermit ein Thema ganz ohne Applauszeilen vor. Ein Thema, zu dem sich statt hundert oder tausend Menschen vielleicht nur ein halbes Dutzend einfinden. Und doch ein Thema, dessen Durchdenken zu einem der wertvollsten Ergebnisse überhaupt führen wird: Am Ende des Abends werden wir mit viel mehr Fragen dastehen als zu Beginn.

Mein Themenvorschlag lautet: »Der Einsatz künstlicher Intelligenz bei individueller und kollektiver Selbsterkenntnis, mit ersten Beispielen …« – und mit anschließender Kritik und gemeinsamem Weiterdenken nach guter deutscher Denktradition, selbstverständlich!

Weiterschreiben, Wegner!

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