Liebe Leser, ich habe Ihnen einst, damals, im Zeitalter vor dem großen Maskenball, erst die eine und dann auch manch andere Geschichte vom Meister und vom Schüler erzählt. Im Essay »Denken darf jeder – warum tun es nur so wenige?!« berichtete ich etwa, wie ein wohlhabender Vater seinen Sohn zum Meister sandte, in der Geschichte zum Essay »Der Dummheit müde« schläft der Meister tatsächlich ein, in »Reichsarbeitsdienst und Tee auf der Terrasse« bricht ein Sturm über der Terrasse los, und in »Die AfD ist schuld an allem« geht es um die wichtige Auswahl von Reiskuchen.
Erlauben Sie mir bitte, Ihnen heute die bislang kürzeste der Geschichten vom Meister zu erzählen, und die Geschichte geht so:
Ein Schüler fragte den Meister, warum der Meister lächelte. Der Meister fragte den Schüler zurück: »Warum lächelst du nicht?«
(Ja, das war die Geschichte! Es folgen die Erörterung, Aktualisierungen und Erklärungen…)
Was gibt es zu lächeln?
Wir hören, jeden Tag und die halbe Nacht lang, ach-so-viele fake-intellektuelle Neubegriffe und unerträglich penetrante Nachrichtenfloskeln, und wenn ich diese Bausteinwörter höre, wollen meine Ohren sich einklappen – und können nicht. (Mehr als ein Ohrenwackeln unter Einbeziehung der Stirn und Augenbrauen ist nicht drin. Was für eine Grausamkeit ist es doch, dass der Mensch die Augen verschließen kann, seltene Weise und Einsiedler auf halber Berghöhe angeblich sogar den Mund, aber nicht die Ohren?! Wahrscheinlich hat es etwas mit Evolution und Notwendigkeit der Wachsamkeit auch im Schlaf zu tun, aber grausam ist es doch.)
Wenn ich sie höre, diese neuen Worte, hohl wie ausgeblasene Eierschalen und ähnlich zweckentfremdet, dann fällt es mir schon bei Gelegenheit erschreckend schwer, zu lächeln, wie der Meister lächelt, zumindest jetzt, in »diesen Tagen« (die, was man so liest, nun seit mehr als einer Handvoll Jahrzehnte andauern).
Habe ich nur nicht verstanden, was es zu lächeln gibt – oder sind die Weisheitslehrer alle verrückt? (»Beides«, höre ich jemanden rufen, und ich zische zurück: »Pssscht, Frechdachs!«)
Wir lesen von der Massenschlägerei in Nürnberg, wo sich Jugendliche »verabreden«, um einander mit Eisenstangen zu vermöbeln (nordbayern.de, 6.5.2020). Wir lesen vom Rentner, der aus seiner Wohnung geworfen wird, um Platz für wichtigere Menschen zu schaffen (ntz.de, 12.2.2019; und aktuell bild.de, 6.5.2019(€)). Wir lesen von Straßenüberfällen (etwa in Schwerin, siehe bild.de, 5.5.2020) – und zeitgleich von Politikern, deren Postengeschacher nur noch als vollständige und zynische Verachtung von Wähler und Demokratie gedeutet werden kann (vergl. merkur.de, 6.5.2020).
Wir hoffen auf Vernunft, und wir ahnen, vergeblich zu hoffen, und wir fragen uns: Wo ließe sich heute ein Lächeln herbekommen?
Der kleine Bruder des Lachens
»Wer zuletzt lacht, lacht am besten«, so sagt eine alte Redeweise, und in meinem Kopf ist sie unentknotbar verbunden mit ihrer sarkastischen Variante: »Wer zuletzt lacht, der hat bloß den Witz nicht früher verstanden!«
Die wirklich Weisen teilen es mit jenen armen Seelen, deren Geist es eher schattig bevorzugt und doch am Luftzug leidet, dass beide oft und ausgiebig lächeln und kein Mensch so recht weiß, wieso sie lächeln.
Wer zuletzt lacht, der hat bloß früher den Witz nicht verstanden, das mag sogar ein wenig wahr sein, und das ist ein Meta-Witz, eine witzige Aussage über Witze selbst.
Wie aber ist es mit dem kleinen, besser erzogenen Bruder des Lachens, nämlich dem Lächeln?
Fröhlich weiter also!
Worüber lacht man? Man lacht über Witze, über Humor, über Lustiges. Sicher, wer einst über propagandistische Karikaturen zu lachen meinte, oder wer heute freiwillig Comedy im ZDF guckt, dessen Lachen ist mehr ein Hyänenlachen, ein Zähnefletschen. – Das Lachen über den Staatsfunk-Humor eines Böhmermann oder eines Welke wäre als geistige Ejakulation der Haltungs-Sadomasochisten nicht vollständig falsch beschrieben – die sogenannten Guten geben den Abweichlern und Ausgestoßenen einen drauf, und dem braven Bürger explodiert jäh die Haltungslust. (Und doch, bei aller Verwerflichkeit des Staatsfunk-Humors, muss es tabu bleiben, diese Gestalten körperlich anzugreifen, wie es jüngst linke Schläger, warum auch immer, taten; vergl. tagesspiegel.de, 4.5.2020 – nebenbei und heute quasi obligatorisch: Man stelle sich den Aufschrei vor, wenn die Schläger nicht »Linke«, also »Gute« gewesen wären.) – Das Lachen, das wir meinen, ist eher das Gegenteil, es ist ein ganz anderes Lachen. Das Lachen, das wir meinen, ist die wehmütige Freude an neuen Worten für alten Schmerz. Das Lachen, das wir meinen, es feiert das Menschsein in seiner selbstbewussten Unvollkommenheit. Das Lachen, das wir meinen, markiert den Moment der Einsicht, an welchem es heißt: »Es ist hoffnungslos, fröhlich weiter also!«
Das Lachen haben wir nun zufriedenstellend umschrieben und vom Kreischen des gehirngewaschenen Mobs abgegrenzt – was aber ist das Lächeln?
Was ist es, das die Mona Lisa lächeln lässt? Was ist es, das meine Kinder manchmal im Schlaf lächeln lässt (wenn sie nicht gerade im Schlaf auf den jeweils anderen schimpfen)?
Vor allem aber: Was ist es, das uns heute ein Lächeln aufs Gesicht pinseln kann?
»Es« und »gut«
Wenn Lachen die körperliche Manifestation unseres Versuches ist, die Schmerzen in der Widersprüchlichkeit des Lebens zu bewältigen, was ist das Lächeln?
Es wäre wenig kontrovers, zunächst festzuhalten, dass das Lächeln die körperliche Manifestation eines damit einhergehenden inneren Zustandes ist, doch wie ließe sich dieser »lächelnde Zustand« in greifbaren Ideen beschreiben?
Vielleicht so: Lachen ist unser Versuch, unseren Schmerz ob der Widersprüchlichkeiten zu bewältigen – und Lächeln ist die Gewissheit, dass eine Ordnung der Dinge möglich ist, dass »es« »gut« werden kann (wofür wir natürlich wissen sollten, was wir mit »es« und »gut« meinen, sonst wird das Lächeln schnell schal und vergänglich).
Nein, es ist nicht alles gut, es wird nicht alles gut werden (solange man mit alles wirklich alles meint – oder auch »nur« das Land). Auch in Deutschland wird nicht alles gut werden – gerade eine Demokratie kann nur so stark sein wie das Land und seine Debatten klug sind.
Doch, wenn wir das »alles ist gut« neu formulieren, und sei es für uns selbst und privatissime, dann haben wir eine Chance, unser Lächeln wieder zu finden. Vielleicht so: »Alles, was mir jetzt wichtig ist, ist gut, ist in seiner und damit meiner Ordnung.«
Nicht zu vernachlässigende Angelegenheiten
Ein Schüler fragte den Meister, warum der Meister lächelte. Der Meister fragte den Schüler zurück: »Warum lächelst du nicht?« – Wir wollen wagen, für beide Fragen eine Antwort zu skizzieren, für die zweite zuerst!
Der Schüler lächelte nicht, weil er die Unordnung der Welt sah, weil er das Leid der Menschen sah, vermutlich auch sein eigenes Weh, weil ihn die Unsicherheit der Zukunft schmerzte – allesamt wahre und nicht zu vernachlässigende Angelegenheiten.
Der Meister lächelte, weil er eine Sache sah, die ihm in guter Ordnung zu sein erschien – etwa die, dass der Schüler das Lernen aufgenommen hatte.
Es ist früher Mai und die Natur blüht, es ist angenehm warm und wenn wir das Gesicht in die Sonne halten, dann wird unsere Haut warm, und wenn wir tief einatmen, können wir das Leben riechen. Natürlich empfiehlt es sich, die Natur an einem Ort zu genießen, wo man nicht von Messern oder Viren aller Sorgen endgültig entledigt wird, doch genießen sollte man es eben doch.
Elli hat eine Tomatenquiche zubereitet, und ruft uns zum Essen. Seit die Kinder daheim übers Internet unterrichtet werden, können wir auch mittags als Familie essen. Das ist ein Stück gute Ordnung, das ist mir wichtig, das lässt mich lächeln. (Im Drama stünde als Regieanweisung an dieser Stelle: Essayist ab – isst zu Mittag.)
(Ich bin nun vom Essen zurückgekommen und schreibe weiter.) Ich kann nicht all die Probleme der Welt lösen, und selbst wenn ich die Macht besäße, so fehlte mir doch die Weisheit. Ich kann jedoch beschließen, für jetzt, für den Augenblick, mich an einer guten Ordnung im Kleinen zu erfreuen.
Das, was in guter Ordnung ist, daran will ich mich jetzt und heute erfreuen, darüber will ich jetzt lächeln – und später, spätestens morgen, wird wieder geschimpft, geflucht und hoffentlich auch irgendetwas repariert.
Wer zuletzt lächelt, der hat den ganz großen Witz verstanden, den Schmerz – und wohl auch das, was der Buddha die »Blume auf dem Müllhaufen« nennt.
Schimpft und flucht, zerlegt die Dinge und baut sie neu auf, ganz wie euch Gewissen und Geschick diktieren und erlauben! Doch, damit das alles nicht vergeblich ist, vergesst nicht, dass ihr eben noch gelächelt habt – und morgen aber, morgen lächelt wieder!