Wenn man wissen will, so schreibt Immanuel Kant, ob ein Ding alt, ob es sehr alt oder noch jung zu nennen sei, so muss man es nicht nach der Anzahl der Jahre schätzen, die es gedauert hat, sondern nach dem Verhältnis, das diese zu derjenigen Zeit haben, die es dauern soll.
Ein 15-jähriger Mensch ist demnach jung, da er, zumindest statistisch, die meiste Zeit seines Lebens noch vor sich hat. Ein 15-jähriger Hund dagegen ist wohl alt zu nennen.
In diesem Sinne ist die Bundesrepublik Deutschland »alt« zu nennen. An Jahren ist die Bundesrepublik gerade mal 75 Jahre alt. Das sind 24 Jahre mehr, als der Deutsche Bund alt wurde, 47 Jahre mehr als das Deutsche Kaiserreich. 61 Jahre mehr als die Weimarer Republik. 63 Jahre mehr als die NS-Zeit und immerhin 34 Jahre mehr als die DDR.
Die Bundesrepublik ist im Vergleich der Deutschlande ein wahrlich alter Hund, und man spürt es in den politischen Knochen.
Einzig das Heilige Römische Reich Deutscher Nation wurde älter als wir heute sind, 769 Jahre älter, doch ich kann an uns wenig Heiliges erkennen.
Seufz … wir sind alt.
Alt als Demokratie und Rechtsstaat.
Alt als wirtschaftlicher Standort.
Alt und nicht mehr so attraktiv wie früher, etwa als Ort, an welchen Menschen übersiedeln (also die Menschen, die netto etwas zum Bruttosozialprodukt beitragen).
Obwohl wenig sexy
Die Wissenschaft ums Altern ist nicht »sexy«.
Die Gerontologie und ihre Teilgebiete beobachten, wie der Mensch zerfällt, nachdem die Zeit seiner biologischen Nützlichkeit abgelaufen ist.
Seneszenz beschreibt die Alterung von Zellen und Geweben.
Das Studium der Neurodegeneration beschreibt den Abbau von Nervenzellen, etwa bei alterstypischen Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson.
Komorbidität beschreibt das kombinierte Auftreten von Krankheiten im Alter.
Nein, »sexy« ist nichts davon. »Sexy« würde auch im Wortsinne bedeuten, dass es zur Reproduktion einlädt, und das ist im Alter naturgemäß weniger der Fall.
Ja, das aufregendste Gebiet der Altersforschung ist noch die Longevity, also die Wissenschaft von der Langlebigkeit. Das Interessanteste an der Erforschung des Alters ist die Frage, wie man das Sterben hinauszögert und zugleich die Symptome des Altseins mindert.
Die Lebensweisheit dazu lautet: »Alle wollen alt werden, nur alt sein will keiner.«
Selbst die Königin von England
Am Altern lässt sich nicht wirklich viel aufhalten, nicht allzu lange. Selbst die Reichsten und Wichtigsten, ob Rockefeller oder die Königin von England, sterben irgendwann.
Doch das Verstehen des Alterns und Sterbens ist seit jeher ein Quell des Verständnisses unserer selbst. Wir beobachten das Altwerden im Geiste des »Erkenne dich selbst«. Und das wird zunehmend zur Prämisse, mit welcher ich über die neueste Runde im Samsara der deutschen Staatsformen schreibe.
Deutschland stirbt – wieder –, und wir schreiben über das deutsche Sterben, um uns – Staaten und Menschen – mit dem Attribut »deutsch« zu verstehen.
Und zudem: Die Welt wird wahrlich nicht am deutschen Wesen genesen – all das Gelächter und die Verwunderung über die heutigen Deutschen machte es ohnehin schwer.
Doch das Anschauungsstück Deutschland kann helfen, zu verstehen, wie Staaten und Gesellschaften an sich selbst scheitern.
Deutschlands Symptome
Einige typische geistige Symptome des Alterns sind: Gedächtnisrückgang, langsamere Verarbeitungsgeschwindigkeit, sozialer Rückzug, Verlust von Partnern oder Freunden, Verschlechterung der Lernfähigkeit, Sinnsuche, Orientierungsschwierigkeiten, Depression und Angststörungen.
Man fragt sich: Als Staat und Gesellschaft, welche dieser Symptome hat Deutschland denn nicht? Der Gedächtnisverlust etwa ist ganz erheblich, verbunden mit einer ins Wahnhafte reichenden Fehlwahrnehmung der eigenen Eigenschaften.
Hausdurchsuchungen wegen Kritik an Politikern, also demütigende Strafe allein durch Denunziation und Anklage, Ausschluss der Opposition von politischen Prozessen, Milliarden Euro an Propaganda und Manipulation, Gehirnwäsche schon in Schulen, Schauprozesse gegen Regierungskritiker und so weiter – Deutschland befindet sich längst an der Schwelle zum Totalitarismus unter Aufhebung des Rechtsstaats, doch in der eigenen Wahrnehmung ist man immer noch die lupenreine Demokratie, das Gute in Gesetz und Ordnung gegossen.
Vernichtung von Industrien und damit Tausenden Arbeitsplätzen, Hoffnungs- und Ideenlosigkeit, Lebensängste auf Anordnung, Hilflosigkeit und gefühlte Abhängigkeit von denen, die einen ausnutzen und missbrauchen.
(Ach ja, bisweilen wird das deutsche Altern auch sehr konkret: Deutschlands Geburtsrate liegt aktuell bei 1,35 Kindern pro Frau, mit einem durchschnittlichen (!) Alter beim ersten Kind von 30,3 Jahren. Damit ein Volk nicht ausstirbt, braucht es mindestens 2,1 Kinder pro Frau. Im Jahr 2023 sind 1,9 Millionen Menschen nach Deutschland gezogen, während 692.989 Babys in Deutschland geboren wurden. Ich vermute, dass Ihr, egal, welchen Alters, diese Zahlen selbst »zusammenrechnen« könnt.)
Zur letzten Ölung
Wenn man wissen will, ob ein Ding jung oder alt ist, soll man laut Immanuel Kant in Betracht ziehen, welches Alter man für dieses Ding überhaupt erwartet.
Wenn bei einem Organismus die Alterserwartung unklar ist, weil diese bei Staaten eben sehr unterschiedlich ausfallen kann, muss man dessen relatives Alter eben aus den Symptomen deuten.
Im Fall Deutschlands hat man immerhin die Möglichkeit, die gegenwärtigen Symptome mit den Symptomen der Endphasen früherer Totalitarismus-Versuche zu vergleichen.
Es ist sehr ärgerlich, dass auch die Kirchen längst wieder zu willigen Rädchen im Propagandastaat degeneriert sind. Man könnte sonst versucht sein, einen Geistlichen zu bestellen, zur letzten Ölung am besten Deutschland aller Zeiten.
Wie großartig muss es werden!
Die Zellen und das Gewebe der deutschen Gesellschaft mögen deutliche Verfallserscheinung zeigen. Auch neuronal, also vom kollektiven Denkvermögen her, sind wir nicht mehr die Hellsten. Andere erfinden, wir regulieren.
Doch bleibt unverzagt und neugierig, liebe Deutschen, ob junge Welpen oder alte Hunde!
Das war das beste Deutschland aller Zeiten, so versichert uns die Politik (wenn sie nicht gerade Bürgerwohnungen wegen »Beleidigung« durchsuchen lässt) – wie großartig muss erst das nächste Deutschland werden?