Im achten und damit letzten Jahrzehnt seines Lebens malte Francisco Goya jene Gemälde, die als die »Pintura negras« bekannt sind, die »schwarzen Gemälde«.
Das bekannteste dieser Gemälde, welches bisweilen als das verstörendste Gemälde der Welt beschrieben wird, ist bekannt als »Saturn verschlingt seinen Sohn«.
Ich hatte beim Schreiben dieses Texte tatsächlich überlegt, euch zu warnen, dass euch das Bild »triggern« könnte. Dass es tatsächlich verstörend ist. Doch im Prado in Madrid hängt es auch »einfach so« an der Wand, also werdet ihr auch hier damit klarkommen, wenn ich es direkt einbette:
Francisco José de Goya y Lucientes (30.3.1746 bis 16.4.1828) bezog 1819 eine Villa in den Außenbezirken von Madrid. Die Villa hieß Quinta del Sordo. Das bedeutet Villa des tauben Mannes, und Goya war ebenfalls taub, seit Jahrzehnten schon, aufgrund einer Krankheit im Alter von 46 Jahren.
Nach seinem Einzug malte Goya zunächst lebensfrohere Bilder an die Wände, später übermalte er sie mit den düsteren, gruseligen »Schwarzen Gemälden«.
Das als »Saturn verschlingt seinen Sohn« bekannte Bild zeigt vor schwarzem Hintergrund eine große, dürre Figur mit aufgerissenen Augen und wilden, grauen Haaren. Die große Figur hockt und hält in beiden Händen eine viel kleinere Figur – und frisst diese offenbar.
Die gefressene Figur ist zwar viel kleiner, wie etwa ein Säugling es wäre, doch sie weist die Proportionen eines Erwachsenen auf.
Der kleinen Figur fehlt bereits der Kopf. Auch der rechte Arm ist nicht mehr zu sehen. Der linke Oberarm ragt in Richtung des zum Beißen offenen Mundes der großen Figur. Wo der Kopf und wohl auch der rechte Arm waren, ist der Rumpf blutig. Ebenso ist der linke Oberarm blutig, wohl vom bereits gefressenen linken Unterarm. Das Blut nimmt nicht viel von der Oberfläche des gesamten Bildes ein. Der Kontrast zum Weiß des kleinen Leibes und zu den braun-grau-schwarzen Farbtönen des restlichen Bildes trägt mit zum Horror des Bildes bei.
Wir lesen hier aber die Worte, in denen ich das Gemälde beschreibe. Ihr könnt diese Inhalte auch selbst feststellen, weiter oben im hier eingebetteten Bild.
Viele der Fragen, die wir zu diesem schrecklichen Bild stellen möchten, beginnen mit dem Wort »warum«.
Warum malte Goya sich dieses kannibalistische Bild ausgerechnet an die Wand seines Esszimmers?
Welche Bedeutung hat es, dass es der alte, kranke Goya war, der das Bild malte?
Welche Bedeutung hat es, dass er dieses Meisterwerk direkt auf die Wand seines Hauses malte, und nicht auf eine Leinwand? Er wusste doch, dass das Bild damit auf absehbare Zeit unverkäuflich sein und man bei Ablösung von der Wand eine irreparable Beschädigung riskieren würde!
Die Motivwahl der Schwarzen Gemälde wird üblicherweise der Situation des Malers zugeschrieben, der privaten Realität wie auch der Realität Spaniens.
Goya war seit Jahrzehnten taub, infolge einer schweren Krankheit. Vielleicht war es Syphilis, eine Bleivergiftung oder ein Schlaganfall. Aus seinen Briefen wissen wir um Goyas Depression und Paranoia. Er war im achten Lebensjahrzehnt. Er war alt, allein, desillusioniert und wütend.
Und dann: Spanien! Napoleonische Kriege, Zerstörung, Sterben, Ferdinand VII., Repression, Verfolgung Andersdenkender, Zensur und Terror, ja sogar ein Wiedererstarken der Inquisition.
Was bedeutet also das Gemälde Saturn verschlingt seinen Sohn?
Nun, der dem Gemälde später verliehene (aber plausible) Titel könnte uns als Inspiration für unsere Interpretation dienen. Der römische Gott Saturn war die römische Version des griechischen Gottes Chronos, sprich: der Gott der Zeit.
In der römischen Sage, basierend auf griechischer Vorlage, wurde dem Saturn von Terra geweissagt, dass eines seiner Kinder ihn stürzen würde. Um das zu verhindern, verschlingt Saturn seine Kindern gleich nach ihrer Geburt. Um das wiederum zu verhindern, versteckt seine Frau das sechste Kind vor dem Vater. Dieses sechste Kind aber ist Jupiter, Zeus im Griechischen. Und, ja, es wird tun, was die Prophezeiung prophezeite.
Goyas Spanien hätte ihm wie ein Vater erscheinen können, der seine Kinder frisst. Meinte er das? Oder meinte er es viel persönlicher? Wir alle sind Kinder der Zeit – und jeder Einzelne von uns wird von der Zeit gefressen werden.
Ebenso wie der alte Goya.
Wi(e)der die höheren Mächte
Diese Interpretationen aus der Perspektive des Künstler klingen plausibel, kein Zweifel. Und doch bleibt wahr: Das Kunstwerk ist dadurch Kunst, dass auch wir – unabhängig vom Künstler – darin Wahrheiten lesen können. Wahrheiten, die über das Beschreibende hinausgehen.
Kunst ist ein Rahmen für das Unsagbare. Bezüglich dieses Werks sagt der Goya-Experte Fred Licht, dass »Saturn« nicht erklärt, sondern ausgehalten werden muss. Die Schwarzen Bilder zeigen, wofür wir keine Worte haben.
Das aber, liebe Freunde der Kunst und Passagiere der Gegenwart, ist der Grund, warum Kunst verboten werden wird.
Kunst kann Wahrheiten transportieren, die in Worten nicht vollständig beschrieben werden können. Vergleicht meine Beschreibung des Gemäldes mit eurem Gefühl bei seiner Betrachtung. Worte können es nicht beschreiben, sonst wäre das Bild ja nicht nötig.
Wir erleben in Deutschland nun zum dritten Mal innerhalb von 100 Jahren, dass Meinungen bestraft und Wahrheiten bekämpft werden. Während direkt ausgesprochene Wahrheiten auch direkt verboten werden können, ist das mit den von der Kunst transportierten Wahrheiten weitaus schwieriger.
Ich sage euch, die Zeit wird kommen, und sie hat schon begonnen, dass man Kunst verbieten wird. Man wird Kunst verbieten und durch staatlich finanzierte »Kunst« ersetzen. Zur Sicherheit wird man die Menschen gehirnwaschen, bis sie nicht mehr in der Lage sein werden, die wahre Wahrheit in der Kunst zu leben.
Wahrheiten wie die, dass uns die höheren Mächte auch heute wieder fressen und töten, einen nach dem anderen – wie einst Saturn seine Kinder. (Ein Unterschied zwischen dem Saturn der Sage und dem Bild von Goya ist übrigens, dass Saturn seine Kinder ganz verschlang, woraufhin die in seinem Bauch weiterlebten. Goyas Saturn frisst uns Glied um Glied. Immerhin ist er gnädig genug, den Kopf zuerst zu fressen – was wir ja auch an einigen Zeitgenossen erkennen, wenn wir mit ihnen reden.)