24.03.2023

Martin hatte es vorher gesehen

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten
Martin wacht zum »Bumm, bumm, bumm« aus des Nachbarn Wohnung auf. Das war so weder gewollt noch vorhergesehen. Einiges anderes, das folgte, hatte Martin durchaus vorher gesehen – aber definitiv nicht gewollt. (Eine Geschichte von D. Wegner)
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Der verfluchte Nachbar hinter der verflucht dünnen Wand drehte seine verfluchte Tanzmusik verflucht laut auf, und das verflucht früh am Morgen, und derart wurde Martin wach.

Martin fluchte, und er verfluchte das alles: den Nachbarn, die dünnen Wände, die Musik und natürlich die Tatsache, dass es so früh war.

Er öffnete seine Augen also, aber nur einen Spalt weit. Das Licht brannte. Martin schloss die Augen wieder. Etwas warten. Dann noch mal versuchen.

Dies war nicht das erste Mal, dass der Nachbar ihm solches antat. Martin besaß Leidenserfahrung.

Martin lag mit geschlossenen Augen da. Er hörte das Wummern der Bässe: bumm, bumm, bumm.

Die äußeren Augen waren verschlossen, doch vor seinem inneren Auge sah Martin bereits, wie er die Kaffeemaschine einschaltete. Er sah sich die Kaffeetasse nehmen – und da passierte es, in seiner Vorstellung: Er ließ die Tasse fallen. Sie zerbrach, und eine Scherbe kratzte seinen linken kleinen Zeh.

Martin fluchte: »Warum stelle ich mir vor, dass ich meine eigene Kaffeetasse zerbreche? Inklusive Scherben und Verletzung?«

Bumm, bumm, bumm.

»Ach, es hilft alles nichts.«

Martin stand auf, schleppte sich in die Küche und warf die Kaffeemaschine an.

Er griff nach der Kaffeetasse.

Er ließ die Tasse fallen. Die Tasse zerbrach und eine Scherbe kratzte seinen linken kleinen Zeh.

Martin setzte zu fluchen an über die verfluchte Kaffeetasse, doch er war mehr verwundert als verärgert.

Mit der zweiten Tasse gelang es Martin, seinem Körper den notwendigen Kaffee einzuflößen.

Der Kratzer an seinem Zeh war erträglich. Martin zog sich an, extra vorsichtig, und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Es regnete, seit der Nacht schon. Der Regen würde bald nachlassen. Martin nahm keinen Schirm mit, sondern eine sturmfeste Jacke, und stapfte zur Straßenbahn.

»Ich hätte die nächste Bahn nehmen sollen«, sagte er sich, als ein lautstark pöbelnder Obdachloser alle Passagiere belästigte, »ich hatte doch genau das vorausgesehen!«

Er stieg aus, um wie üblich umzusteigen. Er ging auf dem Bahnsteig nach vorn, weil im ersten Waggon eine charmante junge Dame mitfahren würde. Es würde nichts weiter passieren, nur ein zufälliges Lächeln, ein schöner Augenkontakt, doch das ist es wert, extra in diesen Waggon und extra an der richtigen Tür einzusteigen.

Martin stieg ein. Da war sie. Er lächelte, und sie lächelte zurück, und weiter passierte nichts. Ganz so, wie er es vorher gesehen hatte.

Es war ein schöner kleiner Moment, ein Lichtstrahl, kein Zweifel, doch eben nicht überraschend.

Wenige Meter vorm Tor des Bürogebäudes wurde er von einer weiteren Einsicht jäh aufgehalten.

Martin sah, dass Hoffmann, sein Chef, drinnen sehr bald sehr wütend werden würde. Er sah nicht die Ursache, nur das Toben und Wüten, und er wusste, dass er das an diesem Morgen nicht gebrauchen könnte.

Er drehte auf der Stelle um und ging in die entgegengesetzte Richtung, als gäbe er dem Wind nach. Er würde sich erst einmal in ein Café setzen und seine nächsten Schritte bedenken.

Dieses Aufwachen zum Musiklärm des Nachbarn, das hatte ihm wirklich nicht gut getan.

»Ich sollte Julia anrufen«, sagt er sich, »und Bescheid geben, dass ich später komme.«

Ihm fehlte die Energie. Er hatte gesehen, dass der Chef wütend sein würde, doch das konnte er schlecht zur Begründung angeben. Und für eine Krankmeldung waren der Straßenlärm und das Pfeifen des Windes im Hintergrund ebenso wenig glaubwürdig.

Die ersten Cafés waren geöffnet, und Martin hatte bislang nur zwei Tassen Kaffee im System. Wie soll da ein Mensch richtig funktionieren?

Unter den verfügbaren Lokalitäten wählte Martin eine, von der er sah, dass bald ein Platz am Fenster frei werden würde.

Er trank einen großen schwarzen Kaffee. Extra groß, normal heiß. Hausmarke, würzig gebrannt.

Irgendwie muss man ja wach werden. Er sah den Menschen zu, wie sie gegen den Wind ankämpften. Viele hatten sinnlos Schirme dabei. Ein Idiot spannte seinen sogar auf, warum auch immer – es regnete ja nicht –, und prompt zerlegte der Wind den Schirm in seine Einzelteile.

Martin lachte. Drei gute Schlucke und eine halb verbrannte Zunge später war er soweit, im Büro anzurufen.

Julia erkannte seine Nummer und zischte sofort: »Martin, wo bist du? Hoffmann ist wütend, richtig wütend.«

»Ich weiß«, sagte er und fragte: »Warum ist Hoffmann wütend?«

Julia zischte wieder: »Die haben das Angebot praktisch angenommen. Der Auftrag ist fast sicher. Wir bräuchten aber dich, und du bist nicht da.«

Martin fragte: »Er ist nur wütend, weil ich nicht da bin?«

»Ja«, zischte Julia, »sonst wäre ja alles super. Warum bist du denn nicht da?«

Martin sagte nichts, er war verwirrt über sich selbst.

»Was ist los?«, zischte Julia.

»Ich erkläre später, was los ist«, sagte Martin. Er legte auf, und in Gedanken ergänzte er: »Sobald ich es selbst weiß.«

Martin stierte aus dem Fenster. Die Leute liefen vorbei. Gleich würde eine ältere Dame einen Zettel am Baum vorm Fenster des Cafés anheften, weil sie ihre entlaufene Miezekatze suchte.

Einen guten Kaffeeschluck später kam das Großmütterchen dann auch, und es stellte ihre Gehhilfe neben den Baum. Ganz so, wie er es vorausgesehen hatte. Die Dame kämpfte mit dem Wind, der einerseits sie umwerfen wollte, andererseits ihre Zettel wild flattern ließ und ihr immer wieder aus den Händen reißen wollte, als sie einen davon mit altmodischen Heftzwecken an der Baumrinde befestigte.

Ach, dachte Martin, wenn seine plötzlichen Fähigkeiten doch auch reichen würden, ihr Haustier wiederzufinden.

Sollte Martin im Lotto spielen? Nein, da müsste er die Zahlen ja Tage oder zumindest Stunden im Voraus wissen, oder? Bislang hatte er immer nur wenige Minuten in die Zukunft gesehen, und er hatte sich nicht ausgesucht, was er sehen würde. Und das mit seinem Chef hatte er wohl selbst verursacht. Rekursiv, gewissermaßen.

Und da riss ihn etwas aus seiner Grübelei, nichts, was passiert war, sondern etwas, das er sah. Und das wohl passieren würde.

Martin sah den Baum vorm Café, sah den großen Ast weit oben abbrechen, krachend laut abbrechen, und nach unten schwingen, in die Fensterscheibe stürzen, Glassplitter überall, Blut, zerschnittene Menschen, Menschen am Boden, Chaos.

Martin musste aufgeschrien haben, und er war wohl aufgesprungen, denn er stand nun, und alle anderen Gäste starrten ihn an.

Er hatte wohl die Kaffeetasse umgeworfen, und der Kaffee floss über den Tisch und tropfte auf den Boden, aber das war auch der einzige Schaden im Café.

Die übrigen Gäste wandten sich wieder von ihm ab. Martin aber begriff, was das bedeutet: Der große Ast am Baum gegenüber würde sehr bald abbrechen und die Glasscheibe bersten lassen – die Menschen waren in Gefahr.

Martin rief: »Der Baum wird zerbrechen! Ein Ast wird abbrechen und ins Café stürzen! Wir sind in Gefahr!«

Es wurde tatsächlich kurz still.

Alle sahen ihn an, niemand sagte etwas.

Martin rief: »Wir müssen raus hier!«

Man schaute ihn noch immer entgeistert an, bis ein Gast sagte: »Ich habe gerade meinen Kaffee bestellt.«

Ein anderer Gast sagte: »Draußen ist Wind.«

Die Bedienung des Ladens eilte zu ihm und sagte streng: »Sie stören die Gäste. Ich muss Sie bitten, selbst dieses Café zu verlassen.«

Martin stammelte: »Aber …«

»Nix aber«, rief die Bedienung und zeigte auf die Tür, »ist gut jetzt.«

Martin versuchte es nochmal: »Der Ast an dem Baum da …«

Er kam nicht weit mit seinen Erklärungen. Die Bedienung sagte mit gefährlich leiser Stimme: »Spinner wie dich können wir hier nicht gebrauchen. Raus, oder ich rufe die Polizei!«

Zwei Männer waren aufgestanden und bewegten sich auf Martin zu. Sie würden ihn rauswerfen, wenn er nicht von allein gehen würde.

Er zog seine Jacke an, und als er aus der Tür des Cafés trat, hörte er die Gäste der Bedienung applaudieren, weil sie den störenden Spinner so resolut abserviert und rausgeworfen hatte.

Martin verließ das Café, knöpfte seine Jacke zu und blieb kurz stehen, um hoch in den Baum zu schauen.

Und tatsächlich: Der große Ast schien tatsächlich bereits angebrochen zu sein. Man sah das nackte Holz, wenn man genau hinschaute, und der Ast neigte sich bereits.

Martin drehte sich wieder zum Café um, wollte die Gäste doch noch mal warnen. Von dort aber trafen ihn die eisigsten Blicke.

Er seufzte, zuckte mit den Schultern und stapfte weiter.

Diesmal kämpfte er sich gegen den Wind, weg vom Café. Er neigte sich vor, damit er nicht umgeweht würde. Er dachte sich: Wenn der Wind irgendwas durch die Straße weht, dann will ich es sehen, dann soll es mich wenigstens frontal erwischen.

Sein Mobiltelefon klingelte.

Es war Julia.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Kommt drauf an«, sagte er. Hinter ihm krachte es ganz fürchterlich.

Glas barst. Menschen schrien. Alarm heulte. Martin drehte nicht einmal den Kopf um. Er zog weiter, wie der starke Mann im Hollywood-Film, den Flammen hinter ihm keine weitere Beachtung schenkend.

Er telefonierte noch immer mit Julia.

»Was war das?«, fragte sie.

»Ein Ast ist heruntergefallen«, sagte er.

»Ein Ast?«

»Ja.«

Die Menschen auf der Straße liefen nun alle durcheinander. Die einen zum Café hin, die anderen vom Café weg. Jeder folgte seiner eigenen Logik.

Martin dachte an die Menschen im Café. Verfluchte Deppen. Arme Schweine und verfluchte Deppen.

Irgendwoher klang Musik, dasselbe »Bumm, bumm, bumm«, das auch der Nachbar spielte. Martin würde herausfinden, was es war. Der Kratzer an seinem linken kleinen Zeh juckte etwas.

Julia fragte: »Kommst du heute noch rein?«

Martin sah das Leuchtschild an einem Geschäft: »Spielothek & Casino«.

»Ich glaube nicht, dass das heute noch etwas wird«, sagte er zu Julia, »ich will mal etwas probieren.«

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