Es gehört sich nicht, ich weiß. Und doch tut es jeder von uns. Du, ich und dein Sitznachbar: Wir blicken schon mal auf das Mobiltelefon der Anderen.
Manchmal haken wir das Gesehene an: »Ist halt so.«
Manchmal sind wir belustigt, manchmal tatsächlich verärgert. Und dann wieder passiert es, das uns jenes ärgerliche Gefühl der in Moral verhüllten Verachtung ergreift: das Mitleid.
Wir können ja nicht anders! Der Bildschirm zuckt und blinkt, er zieht unser Auge an. Das ist des Bildschirms erste Aufgabe: die Aufmerksamkeit des Menschen an sich zu ziehen. So funktioniert er, so zerstört er die Menschheit.
Oft ist es eine Message-App. Apple Messages oder WhatsApp. Die bekannten Sprechblasen. Manchmal hat eine der beiden Seiten lange Nachrichten geschrieben, und derer viele – und wir sind froh, nicht in der Haut des Empfängers zu stecken.
Manchmal scrollt der Andere durch Facebook oder Instagram. (Ja, ich habe eben dreimal Produkte des Meta-Konzerns erwähnt.)
Ältere Semester scrollen schon mal durch Nachrichten-Medien. Insassen jeder Generation, auch ich, schauen schon mal YouTube-Videos. Immer wieder positiv überrascht bin ich aber, wenn Menschen tatsächlich Bücher auf dem Smartphone lesen. Angenehmer und sicherer vor Versuchung ist aber natürlich der elektronische Reader. Oder vielleicht sogar, einige von euch werden sich erinnern, ein papiernes Buch!
Letztens also, bei einem solchen ehrlich unabsichtlichen Seitenblick, sah ich den Mobiltelefon-Bildschirm eines Rollstuhlfahrers.
Und er scrollte durch eine Website mit luxuriösen elektrischen Rollstühlen.
Dass die Rollstühle luxuriös waren, erkannte ich daran, dass sie aussahen, als könnten sie auch durch einen Science-Fiction-Film rollen. Vermutlich auch mit Motor und teurer Elektronik. Es standen auch Preise dran, doch aus der Entfernung konnte ich die nicht lesen – ich hatte sowieso schon genug gestarrt.
Ich war gerührt. Bewegt. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, nicht aber wegen des kurzen Blicks in die »öffentliche Privatsphäre« jenes Mitmenschen.
Menschen kaufen sich Luxusgüter, teure Uhren oder Autos etwa, auch um ihren sozialen Status – auch vor sich selbst! – damit zu erhöhen. Ein ehrlicherer Ausdruck für »sozialer Status« ist: gefühlter Wert. Der Mann mit der Rolex und die Frau im Chanel-Kleid fühlen sich wertvoller. Ja, man weiß, dass es gekauft und vorübergehend ist, doch das hindert einen nicht an diesem Gefühl.
Wenn dieser Mensch sich den teuren Luxus-Rollstuhl leisten könnte, hätte er mit dem neuen Gefährt gewiss ein paar technische Vorteile. Ich bin zu ehrlich, um an dieser Stelle zu googeln und Ahnung zu simulieren. Also vermute ich: Motorleistung, Federung, Kurvenlage.
Natürlich hat ein motorisierter Rollstuhl konkrete Vorteile. Doch, damit meine emotionale Reaktion einen Sinn ergibt, waren es nicht diese, nach denen er suchte – er träumte vom Luxus.
Das Gehirn braucht eine Rechtfertigung für den Luxuskauf, und sei sie auch noch so fadenscheinig. Rolex-Käufer führen das hauseigene Uhrwerk an, Chanel-Käufer das Handwerk der Näherinnen. Und vermutlich würde der Rollstuhlfahrer auch etwas Technisches anführen können.
In meinem Kopf aber, in meiner als Empathie etikettierten Unterstellung psychischer Innenzustände, träumte jener Mensch von einer Anhebung seines sozialen Status durch den Kauf. Er träumte davon, seinen gefühlten Wert zu steigern: »Meine Beine funktionieren nicht, aber mein Rollstuhl sieht total Science Fiction aus!«
Es gehört sich nicht, vermute ich. Und doch tut es jeder von uns: Wir werden uns schon mal des Schicksals des Mitmenschen bewusst und sind heilfroh, dass es nicht das unsere ist.
Natürlich hätte jener Mensch vermutlich lieber die gesunden Beine, die die meisten von uns als selbstverständlich voraussetzen (bis die Beine irgendwann aussetzen). Aber da Beine mit Geld vermutlich nicht zu kaufen sind, träumt er von einem besseren Rollstuhl.
Ich will gestehen: Vielleicht war es nicht neutrale Empathie, die ich empfand, sondern jenes klebrige, überhebliche Gefühl namens Mitleid. Und ich frage mich, wie viele Menschen dabei Mitleid empfinden könnten, wenn sie sehen, wovon ich träume. – Ach, genug der introspektiven Selbstkasteiung!
Mein erstes Gefühl war wohl eines der Ähnlichkeit mit mir, der Seelenverwandtschaft. Träume ich denn nicht bisweilen davon, ein klein wenig mehr Würde kaufen zu können, vielleicht sogar etwas Wert?
Es gehört sich aber natürlich auch weiterhin nicht, anderen Leuten auf ihr Mobiltelefon zu schauen. Ich weiß, ich weiß. Doch in jenem Moment, als ich sah, was ich als Traum vom Luxus-Rollstuhl interpretierte, fühlte ich mich wirklich mit diesem Menschen verbunden.