Betrachtet zum Beispiel Eure Nasen. Sie wurden gemacht, um Brillen zu tragen, und man trägt auch welche. Eure Beine: Ihr empfingt sie, um sie zu bestrümpfen und zu beschuhen, und Ihr bestrümpft und beschuht sie. Seht die Quadersteine an! Sie wachsen, um zersägt, behauen, und zum Bau der Paläste verwandt zu werden, derohalben hat unser gnädiger Herr Baron einen gar herrlichen Palast von Quadersteinen; der größte Baron im ganzen Herzogtum muss die beste, bequemste Wohnung haben, und hat sie auch. Die Schweine schuf Gott, damit der Mensch sie äße, essen wir nicht Schweinefleisch jahraus jahrein? – Es ist des Aufklärers Voltaire Schicksal, heute, im Zeitalter empörter Anti-Aufklärung, zuerst für ein Zitat bekannt zu sein, das er weder sagte noch schrieb, sondern das über ihn gesagt wurde (das mit dem Sterbenwollen im Kampf für des anderen Menschen Recht, dieses oder jenes zu sagen) – dabei enthält das, was Voltaire tatsächlich schrieb, durchaus Sprengkraft, so etwa die Zeilen, die den Anfang dieses Textes bilden!
1759 veröffentlichte Voltaire, unter dem Pseudonym Docteur Ralph, Candide oder der Optimismus, und aus diesem Buch stammen obige Zeilen. (Wir sollten Candide dringend heute lesen, ob aufs Neue oder zum ersten Mal; es gibt das Buch natürlich bei Amazon oder auch gratis online z.B. bei zeno.org.)
Der Protagonist des Büchleins ist eine schlichte Seele namens Candide, geboren und aufgewachsen auf einem westfälischen Schloss, von dort aber nach dem Techtelmechtel mit einer traumschönen Prinzessin (»Ihre Lippen begegneten einander, ihre Augen erglühten, ihre Knie bebten, ihre Hände verirrten sich.«) vom Baron von Donnerstrunkhausen aus dem besten aller möglichen Schlösser vertrieben (»… diese Ursach‘ und diese Wirkung erblickend, jagt‘ er Candiden mit derben Fußtritten zum Schlosse hinaus«).
Candide wurde von einem Lehrer namens Pangloss unterrichtet; »Pangloss« ließe sich als Allessprecher übersetzen, und Pangloss ist Anhänger und Prediger der Leibnizschen Lehre von der Besten aller möglichen Welten und auch sonst einigem, das beim einfach gestrickten Schüler Candide tiefe Wurzeln schlägt:
Pangloss lehrte die Metaphysiko-theologo-kosmolo-nigologie; bewies mit der stärksten philosophischen Suade, daß ohne Ursach keine Wirkung sein könne, und daß in dieser besten aller möglichen Welten das Schloß des gnädgen Herrn Barons das schönste aller Schlösser sei… (Voltaire, Candide)
Der durch Natur und Erziehung bedingt gleich doppelt zu Naivität neigende Candide ist aus seinem »irdischen Paradies« vertrieben, und so macht er sich auf, Welt und Länder, wie sie wirklich sind, zu entdecken; das Böse, das Leid, den Krieg, und so weiter:
Zuerst rissen die Kanonen auf jeder Seite so ein sechstausend Mann nieder, alsdann säuberte das Musketenfeuer die beste aller möglichen Welten von so ein neun- bis zehntausend Schurken, die deren Oberfläche angesteckt hatten. (Voltaire, Candide)
Die zitierte Passage ist nicht die brutalste, wahrlich nicht – es gibt brutalere. Mit großer Mühe versuchen Candide und sein Lehrer, selbst grobes Leid optimistisch und nach einem Prinzip von Ursache und Wirkung wegzuerklären.
Candide findet sich in Portugal wieder, just zum Zeitpunkt des großen Bebens:
Feuer- und Aschenwirbel bedeckten die Gassen und öffentlichen Plätze; die Grundfesten der Häuser wichen aus den Fugen, Giebel, Dächer stürzten herab, die Häuser zerschossen in Schutt und Trümmer, und dreißigtausend Einwohner jegliches Geschlechts und Alters erlagen unter selbigen. (Voltaire, Candide)
Auch im absurden Leid jenes Unglücks will Pangloss seine Lehre unterbringen:
Pangloss tröstete die Anwesenden und gab ihnen die Versicherung; dass es gar nicht anders sein könnte, weil die Welt aufs beste eingerichtet sei. Denn, sagte er, wenn zu Lissabon ein unterirdischer Brand ist, kann keiner zu Wien und Berlin sein, sintemal es unmöglich, dass ein Ding an mehr als an einem Orte zugleich sein kann, alldieweil alles, was da ist, gut ist. (Voltaire, Candide)
Man sucht Schuldige, und man findet sie:
Während des Gesangs ward Candide nach Noten mit Ruten gestrichen; der Biskajer und die beiden Speckverächter verbrannt, und Pangloss wider allen Schick und Brauch aufgehängt. Und unter der Erde begann von neuem ein grässliches Gerassel und Geprassel. (Voltaire, Candide)
Der Träumer Pangloss stirbt an seinen Träumen, der naive Held Candide kommt mit Schlägen davon, immer wieder, denn mit ihm sollen auch wir Leser noch wachsen dürfen.
Die Geschichte Candides – des Buches wie des Helden – ist die Geschichte des Scheiterns des blinden Optimismus an der blutigen Realität, oder, eine bekannte Erklärung der Aufklärung aufgreifend: das Herausgehen des Menschen aus seiner Naivität.
Glaubenssätze
Wenn eine schlimme Epoche zu Ende geht, fragt man sich stets, wie es dazu kommen konnte. Auf dem Banner der Gutmenschen steht noch immer Merkels »Wir schaffen das«, – es ist ein Glaubenssatz. So wie die Nase laut Pangloss geschaffen wurde, um eine Brille zu tragen, so hat im Glaubensgebäude linksgrünen Wahns die Migrationswelle den Sinn, dem Westen eine Gelegenheit zur praktischen Nächstenliebe zu geben – nicht die Migranten sollen uns dankbar sein, heißt es, sondern wir den Migranten, dass wir helfen dürfen.
Der Wir-schaffen-das-Irrglaube, täglich widerlegt von den längst nicht mehr zu zählenden »Einzelfällen«, nimmt im Geist einen Bezug auf1. Korinther 10,13b (»Gott ist treu, der euch nicht versuchen lässt über eure Kraft, sondern macht, dass die Versuchung so ein Ende nimmt, dass ihr’s ertragen könnt«), auch das ein Glaubenssatz.
Candide – Buch wie Held – sind zu Beginn erfasst von einem kindisch-simplen, und dabei erstaunlich selbstbewussten Glauben an eine im Kern gute Welt, also an die Güte aller Fremden, an die banale Gerechtigkeit von Ursache und Wirkung, an die metaphysisch garantierte Möglichkeit des spontan als moralisch empfundenen Wünschenswerten, selbst wenn es aller Erfahrung und auch nur der blanken Mathematik widerspricht. Das Gruselige bei Voltaires Candide wie bei den Gutmenschen von heute ist, dass ihr fanatischer Glaube nicht nachlässt, selbst wenn Frauen vergewaltigt und aufgeschlitzt werden, selbst wenn Leid die Welt erfasst und die Mächtigen ihrer Willkür freien Lauf lassen.
»Ich war etwas naiv«
Kaum ein anderer meiner Texte hat so viel Wut der Wir-schaffen-das-Fraktion auf sich gezogen wie »Die Schuld der Gutmenschen« von 2017; ich gebe den »Gutmenschen« eine moralische Mitschuld an den blutigen Folgen ihrer quasi-militanten Gesinnungsethik.
Wahrlich nicht alle, aber einige der Verblendeten beginnen die Verbindung zwischen ihrem Handeln und den unmittelbaren Folgen ihres Handelns zu ahnen. Doch, Gutmenschen und ihre geistigen Verwandten sind Gesinnungsethiker, das heißt, dass die moralische Gesinnung (sprich: das Bauchgefühl) im Zeitpunkt der Handlung einen freispricht von der Verantwortung für die schrecklichen Folgen, selbst wenn diese mit einem Minimum an Realismus und Verstandeseinsatz abzusehen und damit zu verhindern gewesen wären.
Der Gesinnungsethiker gesteht nicht moralische Schuld ein, sondern verweist auf die Pflicht ein »freundliches Gesicht« zu zeigen. Wenn der Zusammenhang des eigenen Fanatismus und der schlimmen Folgen gar nicht mehr zu leugnen ist, hat der moderne Moralist eine neue Selbstfreisprechung gefunden, die der äußeren Form nach wie das Zugeben von Schuld klingt: Er/sie räumt »Naivität« ein.
Man sagt Sätze wie »Ich war ein wenig naiv« oder man verteilt feige die eigene moralische Schuld auf viele Schultern: »Wir waren alle zu naiv«, und es klingt wie ein Schuldeingeständnis, aber es klingt eben nur so.
Die Damen vom Orakel
Seit Jahrtausenden schon erleben wir eine merkwürdige Besessenheit der Eliten mit jungen Mädchen und Jungfrauen, speziell mit deren angeblichen magischen Weisheit und prophetischer Gabe.
Im Orakel von Delphi wurde die Pythia, also die amtierende weissagende Priesterin, wohl mit Gasen und Ritualen in eine Trance versetzt, um dann ekstatisch ihre Orakel auszustoßen. (Aus verschiedenen Gründen soll man in einer späteren Phase des Orakels von jungen auf ältere Damen umgestiegen sein.) – Die Sprüche des Orakels waren meist unverständlich, mussten also von Priestern interpretiert werden – man kann sagen, dass die Pythia ein Werkzeug in der Hand von Männern war, die sich ihre Reize zu Nutzen machten, um eine Agenda zu bedienen.
Auch heute bedienen sich mächtige Strippenzieher des publizistischen Reizes junger Mädchen, um politische Ziele an Wahrheit und Wissenschaft vorbei anzutreiben, seien diese Ziele ein Krieg gegen den Irak oder einer gegen Vernunft und westlichen Wohlstand.
Was von der Rationalität 15-jähriger Mädchen zu halten ist, sehen wir etwa am Beispiel der deutschen Drittfrau eines ISIS-Kämpfers aus Leipzig. »Leonora war 15 Jahre alt, als sie vor vier Jahren aus Deutschland nach Syrien reiste, um sich der Dschihadistenmiliz ISIS anzuschließen«, schreibt bild.de, 2.2.2019.
Die Erklärung, warum sich Leonora den Terroristen anschloss?
„Ich war ein wenig naiv. Ich war gerade erst zwei Monate zum Islam konvertiert“ (…) (bild.de, 2.2.2019)
Ja, stimmt schon, »ich war ein wenig naiv« ist eine passende Überschrift – die Frage ist aber, wer die moralische Schuld an ihrer Naivität trägt.
»Sei’s drum.«
Aus der katholischen Kirche hört man immer wieder von Missbrauchsskandalen, seit gefühlt ewig schon – was erwartet man denn, wenn man Männern den Sex verbietet? Wie aber suchen Kirchenvertreter nach Selbstfreisprechung, warum die Kirche nicht früher und nicht entschiedener dagegen vorgeht? Wir ahnen es: Man sei »naiv« gewesen (religion.orf.at, 1.2.2019).
Naivität klingt besser als Fanatismus oder verantwortungsloses Wegschauen. »Ich war etwas naiv« klingt besser als, »ich habe komplett verantwortungslos gehandelt und trage Schuld am Leid«. Merkel hat ja praktisch wörtlich formuliert, dass ein Land, in dem man sich für eine Politik des »freundlichen Gesichtes« – sprich: Naivität – entschuldigen muss, nicht ihr Land sei (welt.de, 15.9.2015 titelt dazu treffend: »Merkel versteht die Welt nicht mehr«).
Man könnte die Frage stellen, wie viel Mitschuld deutsche Haltungsjournalisten an den Folgen gutmenschlicher Politik tragen, immerhin haben sie mit moralisierenden, schönfärberischen Refugees-Welcome-Texten de facto Deutschland als All-Inclusive-Paradies vermarktet.
Wie stellen sich Journalisten dieser Frage, wie stellen Sie sich der Frage nach moralischer Verantwortung? Der in Haltungsfragen über jeden Zweifel weitgehend erhabene Peter Huth von der Welt am Sonntag reflektiert eines seiner Stücke von damals so:
Der Text wirkt vielleicht naiv. Und notorische Besserwisser werden sagen, dass sie das alles schon immer hätten kommen sehen, und sich in neuen apokalyptischen Szenarien ergehen. Sei’s drum. (Peter Huth in welt.de, 2.2.2019)
Ein vulgäreres Bekenntnis zur so eiskalten wie tödlichen Gesinnungsethik habe ich selten gelesen – man spricht sich von aller Schuld frei, wissend und sehend, dass man an der Realität vorbei schrieb.
Es wirkt auf mich fremd und gruselig, Selbstberauschtheit, diese Gewissheit, selbst dann richtig zu liegen, wenn man nachweislich falsch lag – man lag nicht falsch, man hat nicht schuldhaft Augen und Verstand verschlossen, man war »naiv«.
Um Herz und Verstand
Die Guten waschen sich, moralmetaphorisch gesprochen, das Blut der Opfer gutmenschlicher Politik mit dem Verweis auf ihre Naivität von den Händen. Diejenigen aber, die sich eben nicht die selbstgewählte Dummheit auf die Fahne schreiben, und welche noch immer um Herz und Verstand des einst aufgeklärten Westens kämpfen, die thematisieren immer wieder und immer deutlicher die gefährliche Naivität jener, die sich für klug und gut halten.
Der Beispiele sind viele, nehmen wir etwa einen aktuellen Text aus Tichys Einblick zum »World Hijab Day«:
Erdogan würde sich über die Naivität der deutschen oder europäischen, vor allem eigentlich christlich geprägten Frauen, innerlich ins Fäustchen lachen. (tichyseinblick.de, 3.2.2019)
Naivität als Code
Trotz des allabendlichen Wir-schaffen-das-Sounds aus dem Staatsfunk ist es dank Internet heute schwer, zu sagen, man habe nichts gewusst, also braucht es eine Selbst-Entschuldigung, die wie ein Schuldeingeständnis klingt, aber doch betont, man hätte die richtige Gesinnung dabei gehabt.
»Wir waren alle naiv«, sagt Alice Schwarzer (cicero.de, 2016/2017). Es ist falsch, eine Unwahrheit, außer »wir« schließt nur Prominente und Propagandisten ein, doch immerhin gehört Schwarzer zu jenen, denen die Naivität schnell und lobenswerterweise abhandenkam, wofür sie von den Naiven und Guten übelst attackiert wurde und wird.
Es ist wenig überraschend, dass auch Merkel ihre Verantwortung via »wir« und »naiv« zu »vergesellschaften« sucht, wie es Tiedje bei nzz.ch, 20.8.2018 treffend formuliert.
Naiv zu sein ist Code für das Freisprechen seiner Selbst für die Folgen des eigenen Handelns, und manche wie die ordensbehangene Dunja Hayali (die vom ZDF mit dem Stichwort »Haltung« beworben wird) nennen sich selbst halb-ironisch (aber eben nur halb) wörtlich »naiv« (@dunjahayali, 15.6.2018, archiviert).
Seinen Garten bestellen
Wird der Westen seine Naivität ablegen? Wird und kann es in Deutschland gelingen, an Staatsfunk und Haltungsjournalisten vorbei, in die Wohnzimmer und in die Debatte einzudringen und den Leuten das so angenehm wärmende wie zugleich tödliche Federbett von oben verordneter Naivität wegzuziehen?
Candide selbst kommt im Laufe der Geschichte zu Verstand und zu Sinnen. Er lässt den blinden Optimismus fahren und lernt realistischere Perspektiven auf Welt und Menschheit kennen. Es wird eine Reihe alternativer Denkansätze vorgestellt, und der Aufklärer Voltaire lässt offen, welche Philosophie er an die Stelle des zwanghaften Optimismus stellen will.
Das Buch endet mit diesen Worten:
»Gut gesagt! Recht gut! sagte Candide, allein wir müssen unsern Garten bestellen.« (Ich habe Ähnliches als Lied der Innenhöfe beschrieben.) –Zuvor ruft Candides neuer Kompagnon Martin auf: »Lasst uns arbeiten, ohne alle Vernünfteleien, sagte Martin. Das ist das einzige Mittel, sich das Leben erträglich zu machen.« – Es ist ein kleines Gut, an dem sie arbeiten wollen, und, ja, an seinen relevanten Strukturen zu arbeiten, das scheint mir tatsächlich der Weisheit letzter Schluss – manche interpretieren den zu bestellenden Garten als den Garten Eden, und ich frage: Ist das nicht eins, der eigene Garten, der wohlgeschützte Innenhof, und das mythische Paradies?
In Büchern liegt es am Autor, ob die Dinge ein gutes Ende finden, und ob der Held etwas Nützliches aus all dem Aufruhr lernt. In der Gesellschaft, im richtigen Leben, und gerade in der Demokratie, liegt es an den Bürgern und Wählern, an uns selbst.
Ist dies die beste aller möglichen Welten? Nein, definitiv nicht. Doch, sie kann eine bessere Welt sein, und ob sie es wird, das liegt – zum Glück! – an uns, den Helden dieser Geschichte.