Wir Menschen sind erstaunlich fasziniert von Wahlen. Warum eigentlich?
Wo gewählt wird, da müssen wir hinschauen! Da geht es uns mit Wahlen genauso wie mit Autounfällen. Wir müssen einfach hinschauen – und Zyniker würden sagen: vermutlich aus ähnlichen Gründen!
Nicht (nur) der Wirkung wegen
Man könnte mir hier widersprechen und man könnte sagen: »Ja, Wahlen haben Konsequenzen, die unser aller Leben bestimmen. Deshalb beschäftigen sie uns so sehr!«
Das klingt plausibel, kein Zweifel.
Doch bedenkt, an wie vielen Wahlen wir teilnehmen, aktiv oder passiv, weil es einfach Spaß macht.
Da wäre etwa die Eurovision mit dem inoffiziellen Motto »Germany Zero Points«.
Ich kann mich noch sehr lebhaft an die Zeit erinnern, als ganz Deutschland über »Big Brother« diskutierte – und online abstimmte, wer im Haus bleiben sollte.
Ich schaue nicht mehr viel TV, doch wenn ich mich richtig erinnere, gab es noch Sendungen wie »Deutschland sucht den Superstar«, »Germany’s Next Topmodel« oder »Schlag den Raab«, bei denen der Zuschauer via Telefon über ein Ergebnis abstimmen konnte.
Anders als bei politischen Wahlen steht bei diesen Shows auch offiziell fest, dass das Ergebnis keinen realen Unterschied im Leben des Zuschauers bewirkt.
Und doch wählen die Menschen, zu Millionen!
Und doch diskutieren sie die Ergebnisse, empört und engagiert!
Ja, die Rufnummern sind oft kostenpflichtig! Zu wählen kostet Geld, und die Menschen wählen dennoch.
Wählen zu wollen und von Wahlen fasziniert zu sein, ist dem Menschen angeboren.
Doch was bedeutet das?
Du bist Wahlen
Die Faszination für Wahlen und ihre möglichen Ergebnisse erleben wir quer durch alle sozialen und kulturellen Schichten.
Die Eliten mögen mit einem Schmunzeln auf unsere Hoffnung herabblicken, dass politische Wahlen etwas verändern können.
»Haha«, sagen die Eliten kalt, »wenn Wahlen etwas ändern würden, dann wäre das unverzeihlich, und dann würden wir Brandmauern einziehen, damit die doofen Wahlen eben doch nichts verändern!«
Und dann, nachdem sie genug über die Dummheit der Masse geschmunzelt haben, wechseln die Eliten das Thema und diskutieren die ihnen wirklich wichtigen Wahlen.
Wer der nächste Vorsitzende im Segelclub wird. Im Golfclub. In der Loge.
Ob Skatclub oder Bundestagswahl, ob Golfclub oder Fanclub: Wählen zu wollen und bei der Wahl mitzufiebern, das ist dem Menschen von der Evolution selbst mitgegeben – aber warum?
Immer der eine Grund
Was auch immer uns die Evolution an Eigenschaften mitgegeben hat, es hat immer den einen Grund: DNA-Vermehrung.
Ob Liebe oder Hass, ob Neid oder Ästhetik, ob Freude an der Natur oder Lust am Kampf, alles hat immer den einen Grund: evolutio vult – die Evolution will es.
Doch natürlich ist es eine begrifflich fragwürdige Vermenschlichung, zu sagen, dass die Evolution etwas »will«!
Die Evolution »will« etwas in dem Sinne, dass die Addition von eins und eins irgendwie »zwei ergeben will«.
Das »Wollen« der Evolution ähnelt weniger dem Wollen des Menschen als mehr dem Rollen des Steines, der einen Berg hinabkullert.
»Will» der Stein hierhin oder dahin springen? Nein, es sind die Gesetze der Physik, die ihn in die eine oder andere Richtung springen lassen.
(Es sei der essayistischen Vollständigkeit halber notiert, dass man bezüglich der Willensfreiheit des Menschen umgekehrt postulieren könnte, dass der Mensch ebenso wenig »frei« ist und also auch keinen »freien Willen« hat, dass der Pfad des kullernden Steines wie auch des ach so freien Menschen zu jedem Zeitpunkt determiniert und vorhersagbar waren, wenn man nur genau genug hinschaute. Wir nennen »Zufall«, wessen Kausalität wir nicht verstehen – ebenso mit Willensfreiheit.)
Genug aber dieser frustrierenden Philosophie – zurück zum Überlebenswichtigen: Wenn »die Evolution etwas will«, dann will sie es immer aus dem einen Grund, nämlich dem, dass es die betreffenden Strukturen überleben lässt.
(Oder genauer: Weil diese Eigenschaft dem Überleben diente, damals in der Steppe, als der Homo sapiens zu diesem wurde.)
Wenn wir gewinnen
Dem Menschen ist es offenbar angeboren, größere Strukturen mithilfe seiner Wahlstimme mitzuformen.
Seine Stimme bei einer Wahl abgegeben zu haben und dann die Wahlergebnisse zu verfolgen, wühlt Serotonin und Dopamin auf – die Hormone für Glück und Aufregung.
Dass die Evolution ein Verhalten mit diesen Hormonen fördert, bedeutet regelmäßig, dass sie den entsprechenden Mechanismus als buchstäblich überlebenswichtig bewertet.
Wenn »unser« Favorit gewinnt, werden die Belohnungsmechanismen in unserem Gehirn aktiviert. Wenn der Gegner gewinnt, werden einige von uns wütend und aggressiv, andere werden zunächst lethargisch – und dann prüfen sie womöglich sich selbst und fügen sich doch.
Wahlen dienen der Identifikation mit der größeren Struktur und geben eine Rechtfertigung, sich für diese größere Struktur aufzuopfern – was evolutionär notwendig sein kann und deshalb ebenfalls eine Glücksquelle darstellt.
Freude und Zweck
Das Überleben des Westens ist aus mehr als einem Grund gefährdet, doch viele dieser Gründe sind überraschend ähnlich strukturiert!
Wir wollen die »Freude« eines evolutionären Mechanismus nutzen – etwa Sex, Zucker, Wahlen –, doch wir ignorieren den Grund, warum die Evolution uns das so einprogrammierte.
Wir wollen Sex ohne Vermehrung. Zucker ohne Sport (und Vitamine) und Wahlen ohne echte Veränderung, ohne echten Rückgriff auf die Weisheit der Masse.
Die Verhütung neutralisiert Nachwuchs als Sinn der Freude am Sex – und wenn sie schiefgeht, kann man ja immer noch »abtreiben«.
Nahrungsindustrie, Sitzkultur und Konsumgesellschaft neutralisieren den Zweck von Zucker, nämlich die für Bewegung notwendige Energie und nebenbei immer auch Vitamine zu liefern.
Propaganda, Eingriffe in die Meinungsbildung und »Brandmauern« neutralisieren den Zweck von Wahlen und Mitbestimmung, nämlich durch Rückgriff auf kollektive Erkenntnis das Überleben der Gruppe sicherzustellen.
Um zu verstehen
Wir sind fasziniert von Wahlen, ob zum Bundestag oder zum nächsten Popstar aus der TV-Retorte.
Ich muss gestehen, dass ich in mir eine Faszination für unseren Niedergang feststelle.
»Erkenne dich selbst«, gaben uns die alten Griechen zum Auftrag.
Erkenne dich als Individuum. Und erkenne die Gemeinschaft, die Menschheit, deren Teil du bist – und die also auch ein Teil von dir ist.
Ich beobachte und beschreibe unseren Niedergang, auch weil es lebensnotwendig ist, die so folgenschweren Fehler zu verstehen. Ich starre hin, doch es ist weit mehr als die Faszination am Schrecklichen. Mein Herz blutet weit mehr und weit schmerzhafter – so viel Offenheit sei erlaubt –, als es das bei einem (auch) von mir begafften Autounfall täte. Vermutlich, weil ich beim Autounfall die Opfer nicht kenne.
Selbstgewählt klug?
Wir schauen hin, wir schreiben mit. Aber warum?
Wir notieren, was an und um uns herum geschieht, damit andere Gesellschaften und Kulturen aus unseren Fehlern lernen und sich klüger anstellen – klüger und doch zivilisiert.
Vielleicht starren wir in der Hoffnung, dass doch noch ein Wunder geschieht und wir doch noch klug werden – selbstgewählt klug!
Manche Wunder, wie dieser Tage in den USA – wenn sie denn erst mal eintreten –, wirken im Nachhinein häufig verblüffend selbstverständlich.
Ja, manches Wunder wirkt später geradezu determiniert und vorhersagbar – wenn man nur genau genug hinschaute.