Wer lebt, wird verwundet. Wer lebt, der verwundet. Er verwundet und er versehrt sich, er verwundet und er versehrt andere, oft jene und besonders tief jene anderen, die ihm besonders nahe sind.
Mancher von uns wird am Leib verwundet. Ein jeder von uns wird an der Seele verwundet. Mancher, nicht jeder, verwundet einen Mitmenschen am Leib, doch ein jeder und ohne Ausnahme verwundet einen Mitmenschen an der Seele.
Zu versehren, das bedeutet, Schmerzen zuzufügen, indem man Wunden schlägt.
Nicht wenige Wunden schlagen wir aus Unachtsamkeit, aus Fahrlässigkeit oder bloß aus Unwissen. Einige von uns schlagen Wunden aus böser Lust. Traurig und doch gefährlich ist ein Mensch, der Lust an Wunden empfindet, an fremden oder gar an eigenen, also gesteht sich mancher lieber nicht zu, dass solche Versehrung ihn erregt.
Die Welt, und auch wir, die Welteinwohner selbst, wir sind jeweils wie ein Sack voll spitzer Steine. Die Zeiten schütteln uns durch, und wir schleifen einander die Spitzen stumpf, und wir hauen einander die Kanten glatt, doch bei dieser Arbeit splittert schon mal und immer wieder ein neues Stück von uns ab, und es splittert derart ab, dass ganz neue Schärfe entsteht.
Unser fortwährendes Abbrechen und Absplittern, es dauert an, solange wir leben. Diese Wunden stellen ein durchaus geeignetes Diagnosemittel dar, nämlich zur Frage, ob wir leben, ob und wie gründlich.
Wer noch nicht versehrt ist, der wird noch versehrt werden, und wer versehrt wurde, der wird wieder versehrt werden.
Wir wünschen niemandem, versehrt zu werden. Wir freuen uns über niemandes Verletzung.
Und doch ist die Vorstellung tragisch, dass ein Mensch in den Abgrund gehen sollte, welcher keine Versehrung aufweist, welcher ganz und unversehrt ist.
Wenn ein Unversehrter in den Abgrund geht, dann sagen wir Sätze mit »doch« und »noch«, etwa: »Er war doch noch nicht soweit!«, oder: »Ihm stand doch noch so viel Leben bevor«, oder: »Er hatte doch noch so viel Möglichkeit!«
Wenn ein Unversehrter in den Abgrund geht, dann bedauern wir in Wahrheit die Möglichkeiten, die mit ihm verloren gehen.
»Ich wünsche dir, dass du versehrt in den Abgrund gehst«, so zu sprechen, das wäre reichlich kalt, und wohl auch nicht klug.
Wir könnten also eher sagen wollen: »Ich wünsche dir, dass du all deine Möglichkeiten genutzt haben wirst. Ich wünsche dir, dass du zuletzt nicht bedauerst, manche gute Möglichkeit nicht genutzt zu haben. Ich wünsche dir ein Leben zu leben, das gelebt zu haben du dereinst mit gutem Recht stolz sein wirst.«
In solchen Wünschen wäre logisch wohl auch enthalten: Einer, der unversehrt in den Abgrund geht, der hat wohl seine Möglichkeiten nicht genutzt.
Nicht jeder, der versehrt und von Wunden übersät hinabsteigt, wurde in solchen Kämpfen und Schlachten versehrt, die er als seines Lebens und auch seines Schmerzes wert betrachtet. Mancher Kampf ist dumm, manche Schlacht ist sinnlos.
Das Leben wird dich versehren, genauer: Du und deine Mitmenschen, ihr werdet einander Wunden schlagen, und ihr werdet es euer Leben nennen.
Ich wünsche dir, dass deine Wunden aus Schlachten stammen, die dir wichtig waren, die es wert waren, die du wieder kämpfen würdest.
Oder, wie ein alter Segen formuliert: Mögen deine Schlachten deiner Wunden wert gewesen sein.