Dushan-Wegner

12.12.2022

Normal ist Arbeit, aber ihrer wert

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild: »flying glue bottles«, DW via Stable Diffusion
Wenn das Extreme normal wird, wirkt das wirklich Normale extrem. Jedoch, Extremismus ist geistig und emotional einfach – das selbstbewusst normale Leben ist es, das tägliche Arbeit und heute wohl auch Mut erfordert.
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Das Wörtlein »normal« kann, laut Duden, »der Norm entsprechend« oder »vorschriftsmäßig« bedeuten. Es kann auch bedeuten: »so [beschaffen, geartet], wie es sich die allgemeine Meinung als das Übliche, Richtige vorstellt«.

»Normal« ist, was einem soliden Durchschnitt entspricht, oder was eine allgemein anerkannte Norm prototypisch verkörpert.

Wenn ich von einer »normalen Familie« rede, vom »normalen Deutschen« oder von einer »normalen Kleinstadt«, dann haben »normale Bürger« wie Sie und ich jeweils eine konkrete Vorstellung vorm geistigen Auge.

Die Unterschiede

Während die meisten Menschen eines Kultur- und Sprachraums eine ähnliche inhaltliche Vorstellung von Normal-Prototypen einer Kategorie bereithalten, können einzelne Lager innerhalb des Kulturraums dieselbe theoretische Norm mit sehr verschiedenen, sogar eindeutig gegensätzlichen emotionalen Werten belegen.

Einige Menschen geben vor, eine heftige Abneigung gegen das Normale zu empfinden, so sagen sie. »Alles, nur nicht normal«, heißt es in Slogans. Manchmal sind diese Leute tatsächlich die durchschnittlichsten von allen, und halten eine fröhliche Farbe von Hemd oder Lippenstift für »unnormal«. Doch manche meinen das mit dem »Unnormalen« ernst, und die werden bald zu »Problemfällen«.

Jedoch, zum Glück gibt es genug Menschen, denen die Norm und damit die Normalität grundsätzlich als erstrebenswert und bei aller Mühe eben auch beruhigend erscheint – und ich zähle mich selbstbewusst dazu.

Norm und Ernsthaftigkeit

Wenn ich grundsätzlich auf einen Zustand innerhalb etablierter Normen ziele, nutze ich damit die Erfahrung vieler Generationen. Also muss ich nicht alle Fehler wiederholen. In einem ausgewählten Bereich kann und will ich dann die Norm verlassen. Dort teste ich die berüchtigten »Grenzen« aus – und verlege sie vielleicht neu.

In dieser Kombination, nämlich der Norm im Meisten als Fundament des Austestens und sogar Überschreitens der Grenzen im mit Bedacht ausgewählten Wenigen, hoffe ich etwas zu schaffen, was über meine zu traditionellen Werten verklärten evolutionären Funktionen hinaus als ein neue Traditionen begründender Wert von Ernstzunehmenden ernst genommen werden kann.

Nicht normal, nicht mutig

Entgegen mancher Behauptung ist »Unnormal« zu sein in westlicher Kultur oft weder mutig noch anstrengend – ja, der Kapitalismus weiß den gelegentlichen Wunsch nach »Unnormalität« mit »unnormalen« Produkten profitabel zu bedienen. Ein anständiges, geordnetes Leben zu leben, immer wieder seine Gedankengänge und Entscheidungen zu prüfen, und verantwortlich Entscheidungen zu treffen, das ist harte Arbeit.

Ich betrachte einige aktuell in den Nachrichten vertretene Extremisten. Wie so viele Generationen an teils gefährlichen Sektierern sehen auch die »Klimaspinner« oder »Klimakleber« den Weltuntergang nahen, und wollen diesen aufhalten, indem sie sich an der Straße festkleben. (Vielleicht übersehe ich auch einige Details in deren Glaubensgebäude. Ich halte mich an jene alte Lektoren-Regel: »Man muss nicht das ganze Omelett essen, um zu wissen, dass das Ei verdorben war.«)

Was wir lasen

Wir hörten aktuell von einem Klimakleber in Mainz, der sich so gründlich an die Straße klebte, dass er mit Bohrhammer und Fräse herausgetrennt werden musste (bild.de, 12.12.2022). Wir sehen das Foto seiner an den Asphalt geschweißten Hand, und wir denken uns so unseren Teil.

Wir sahen auch die Bilder der beiden Klimakleber in der Elbphilharmonie (mopo.de, 27.11.2022), die sich am Geländer des Dirigentenpultes festklebten – nicht wissend, dass dieses leicht aus dem Boden genommen und samt der Klimakleber weggetragen werden kann.

Im Essay vom 1.11.2022 beschrieb ich den Fall eines Klima-Wort-Brutalos, der den mutmaßlichen Tod eines Menschen durch Klimakleber zynisch abtat, mit den Worten, es handele sich halt um »Klimakampf, nicht Klimakuscheln«.

Ich habe über die Jahre von vielen weiteren Gestalten gelesen, deren Handlungen und Ideologie sie in meinen Augen zu »Extremisten« machten, und ich fragte mich, was sie bewegte, sich derart eklatant außerhalb der etablierten Normen zu stellen.

Das Fallenlassen

Warum wirken diese Menschen, die in ihren gesellschaftlichen Deutungen, Forderungen, politischen Ansichten und Methoden extrem sind, also außerhalb der Norm, auch in so vielen weiteren Aspekten als außerhalb der üblichen Normen stehend?

Ich lese Interviews mit einigen dieser Extremisten, und ich versuche, daraus auf deren innere Logik und Denkwege zu schließen. Mit jedem neuen Schleudertrauma, das ich beim Abfahren derer Gedankenwege erleide, wird mein Verdacht stärker, dass gerade sogenannter »linker« Extremismus im Westen heute das Gegenteil dessen ist, was er zu sein vorgibt – auf mehr als einer Ebene.

Sicher, Klimapanik ist Business und geht mit einer vulgären Umverteilung von unten nach oben einher. Ich habe auch nicht verstanden, warum CO₂-Zertifikate nicht schlicht »legale Erpressung und Geldwäsche« sind. Das Gegenteil aber, das mir heute an den Klimaklebern auffällt, ist eher von seelischer Art.

Ein aus ihren Handlungen und Äußerungen zu schließende Seelenleben einiger geschichtlicher Extremisten wäre wohl als von emotionaler Faulheit geprägtes Durcheinander nicht vollständig falsch beschrieben.

Ordnung ist Arbeit, und eine »normale« Ordnung der Seele erfordert extra viel Arbeit. Unordnung aber ist einfach und stellt sich von selbst ein, auch die Unordnung der Seele.

Wessen relevante Strukturen durcheinander sind, wessen Lebenspläne scheiterten – so es sie überhaupt gab oder geben konnte – wer aus diesem oder jenen Grund keinen Sinn und keine Lebensordnung zu finden vermag, der könnte an den Punkt gelangen, an dem er sich (meist unbewusst) eingestehen muss, dass er aus eigener Kraft weder zu innerer noch zu äußerer Ordnung – sprich: Normalität – gelangen wird.

Es ist der Moment der Einsicht in die Unmöglichkeit einer inneren Ordnung aus eigener Kraft, in welchem ein Verlorener plötzlich seine Sinne für den Sirenengesang des Extremismus öffnet.

»Lass dich nur fallen«, so lockt der Extremismus, »lass das Normale hinter dir. Das Normale ist für Spießer. Wir sind ja gar nicht extrem hier, wir sind erleuchtet und die anderen, all die Generationen vor dir, sind nur extrem blind!«

Ein »normales« Elternteil zu sein, jeweils in seiner Rolle als Mutter oder Vater, ein »normaler« Angestellter, ein »normaler« Chef – all das ist tägliche und harte Arbeit, wie Sie mir bestätigen werden, wenn Sie sich ehrlich zu dieser Kategorie zählen.

Der Mut, die Kraft

Während ich diese Zeilen schreibe, überlege ich bereits, wie sich der Text in einigen Jahren lesen wird. Vielleicht wird es auch dann neue Leser geben, die in langen Nächten essayistischen Gegenwert von Jahren durcharbeiten. Wie kindisch und absurd wird ihnen manches aktuelle Phänomen wie etwa »Klimakleber« vorkommen? – Ach ja, man seufzt.

Ich sehe Extremisten, die von heute und die von früher, und ich sehe ihren armseligen Stolz auf ihre »unnormalen« Ziele und Methoden.

Man kann und muss wohl auch den Staat kritisieren, wenn er solche Extremisten zu lange gewähren lässt. Man kann fragen, was der Zustand einer Gesellschaft ist, die aus dem Ausland finanzierte Extremisten zulässt.

Heute aber will ich einen simpleren, weniger staatstragenden Gedanken nach vorn stellen: Ich will uns »Normalen« aufs Neue den Rücken darin stärken, »selbstbewusst normal« zu sein.

Die Norm ist die Erfahrung vieler Generationen. Wer klüger sein und also höher reichen will als seine Vorfahren, der sollte seinen Aufstieg nicht damit beginnen, von deren Schultern herunterzuspringen.

Seid klug, seid normal, seid mutig! Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dass es an euch ist, höher zu greifen als eure Vorfahren, dann ist es von unschätzbarem Vorteil, wenn eure Füße fest auf dem normalen Boden bewährter Erfahrungen und geprüfter Tatsachen stehen.

Weiterschreiben, Wegner!

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