19.09.2024

Darfst du den Pager deines Kollegen sprengen?

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten
Hisbollah wollte mit Pagers die Überwachung umgehen, dann explodierten die Dinger. Einige finden das super, andere problematisch. Zu wenige fragen sich aber, was die reale Bedeutung dieser Aktion ist.

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Am 9. Juli 2024 titelte reuters.com: »How Hisbollah used pagers and couriers to counter Israel’s high tech surveillance«; frei übersetzt etwa: »Wie Hisbollah auf Pager und Kuriere setzte, um Israels High-Tech-Überwachung zu kontern«.

Inzwischen habt ihr es aber mitbekommen: In Libanon sind erst Tausende Pager explodiert, und dann in einer zweiten Welle auch Walkie Talkies.

Für die jüngere Generation, zur Erklärung: Pager sind Vorläufer der Mobiltelefone, die nur sehr simple Kurznachrichten empfangen können. Walkie Talkies sind wie Mobiltelefone, die auch ohne Funktürme und Netzwerk auskommen, dafür aber mehr oder weniger nah beieinander sein müssen und immer nur wenige, festgelegte Leute erreichen können.

Wie der Reuters-Artikel vom Juli korrekt berichtet, hatte sich die Terrororganisation Hisbollah mit Pagern eingedeckt, weil diese vergleichsweise rustikale Technik ihnen sicherer erschien als moderne, aber zentral überwachte Smartphones.

Explosionen auf Hüfthöhe

Dummerweise hatte sich aber offenbar »jemand« in die Lieferkette der großen Hisbollah-Pager-Lieferung eingeklinkt. Tausende Pager waren wohl mit Sprengsätzen – und vielleicht auch Abhör-Einrichtungen – versehen. Diese Woche wurden diese Sprengsätze dann gezündet (siehe auch n-tv.de, 18.9.2024).

Pager werden meist am Gürtel an der Hüfte getragen. Im Internet finden sich Videos von libanesischen Männern, denen der Pager explodiert – und die Umstehenden fragen sich meist ratlos, was da passiert.

Die israelische Regierung hat die Verantwortung nicht offiziell übernommen. Dennoch werten israelische Medien diesen Angriff als einen Erfolg – und sind denkbar stolz.

Für die Hisbollah stellt dieser Angriff nicht nur eine Sicherheitslücke dar, sondern wird auch intern als Demütigung empfunden.

Als wollte Israel aber beweisen, dass die so spektakuläre wie »genial simple« Sabotage der Pager-Lieferkette kein einmaliger Glücksfall war – und wohl um die Demütigung zu vertiefen –, explodierten tags darauf bei den teils pompösen Beerdigungsfeiern hochrangiger Hisbollah-Terroristen einige Walkie-Talkies (n-tv.de, 19.9.2024).

Aktuell lese ich von 25 bestätigten Toten und über 4.000 Verletzten. Die Zahl wird sich wohl erhöhen. Mindestens ein Opfer war wohl selbst kein Hisbollah-Kämpfer, sondern dessen 10-jährige Tochter. Zu den »interessantesten« Verletzten zählt auch der iranische Botschafter in Beirut (deutschlandfunk.de, 18.9.2024).

Nach aller Erfahrung wird die Hisbollah einen Gegenangriff versuchen – doch man fragt sich natürlich, welche Kommunikationsgeräte sie zur Koordination nutzen wollen. Die Lage an der israelisch-libanesischen Grenze bleibt angespannt.

Viele, nicht alle

Ich bin mir sicher, dass ihr jeder eine emotionale Reaktion auf diese Ereignisse habt.

Wie es mit emotionalen Reaktionen nun mal so ist, sind diese eben nicht immer alle logisch und kohärent.

Einige Reaktionen sind offen begeistert. Ich für meinen Teil muss gestehen, dass die technische Finesse beeindruckend ist – das werden nicht einmal die ärgsten Israel-Kritiker bestreiten. Falls der Mossad dahintersteckt, hat er damit einiges geleistet, um seinen gewünschten Ruf auszubauen.

Andere Reaktionen verdammen Israel, denn die Getöteten und Verwundeten hätten ja kein Gerichtsverfahren durchlaufen, keine Anklage, Beweisaufnahme und Verteidigung.

Dem könnte Israel entgegnen, durch die psychologische Vorbereitung (man redete denen ein, Smartphones seien unsicher, nur die neue Pager-Lieferung sei sicher), stellte man sicher, dass nur Hisbollah-Kämpfer einen Sprengsatz am Gürtel trugen.

Dem wiederum könnte man entgegenhalten, dass, selbst wenn diese Auswahl tatsächlich so präzise war, noch immer indirekte Opfer möglich sind.

Wenn etwa der Hisbollah-Kämpfer gerade ein Auto lenkt, während sein Pager explodiert.

Oder wenn ein Kind sich gerade in der Nähe seines militanten Vaters befindet. So ein Pager wird auf Hüfthöhe getragen, also etwa Kopfhöhe eines Kindes.

Dem könnte der Realist entgegnen, es habe eben seinen Preis, wenn der Vater beschließt, Mitglied einer Terrororganisation zu sein. Ein Terrorist ist aktiver Kämpfer in einem Krieg, und wo er ist, ist immer Kriegszone – so könnte man moralisch argumentieren.

Das vorletzte Haupt-Argument Israels zur moralischen Begründung seiner Aktion – wenn es denn Israel war – könnte sein: »Ihr in Europa und den USA wollt noch nicht wahrhaben, was es bedeutet, unter ständiger Bedrohung von Islamisten zu leben. Aber mit eurer hirnrissigen Politik der letzten Jahrzehnte werdet ihr es noch erfahren, und zwar nicht nur gelegentlich wie jüngst in Solingen, sondern wöchentlich, wenn nicht täglich.«

»Aber anders als ihr Europäer«, so könnte Israel sagen, »haben wir Juden beschlossen, dass wir überleben wollen. Also haltet einfach mal alle zusammen die Klappe.«

Das erste und letzte und entscheidende moralische Argument heute ist aber ein anderes. Ich komme noch dazu.

Krieg, total gerecht

Das heutige Kriegsvölkerrecht verbinden die meisten von uns mit Genfer Konventionen, und die sind tatsächlich von 1864 – ja, »Genfer Konventionen« ist synonym mit »Kriegsvölkerrecht«. – Das Kriegsvölkerrecht soll Zivilisten und Kombattanten in bewaffneten Konflikten schützen, wird jedoch in der modernen Kriegsführung zunehmend ignoriert oder umgangen.

Frühe Formen eines Kriegsvölkerrechts gab es schon in der Antike. So galt es in den griechischen Stadtstaaten, dass man gegnerische Heiligtümer und auch gegnerische Gesandte schonen wollte.

Im Mittelalter entwickelten sich theologisch-staatsphilosophische Konzepte wie der »gerechte Krieg« – »bellum iustum«.

Das moderne Kriegsvölkerrecht wurde vor allem durch die Genfer Konventionen (1864, erweitert 1949) und die Haager Abkommen (1899, 1907) kodifiziert.

Danach sollen Zivilisten im Krieg verschont werden. Bestimmte Waffen sollen verboten sein, etwa chemische und biologische Waffen. Kriegsgefangene sind human zu behandeln und vor Missbrauch zu schützen. Und so weiter.

Doch schon einem Kriegslaien wie mir fallen an diesen feinen moralischen Regeln zwei theoretische und moralische Fußnoten auf.

Erstens stellt sich mir die Frage, wie und ob überhaupt alte Regeln in einer durch Technologie veränderten Welt eingesetzt werden können. Wenn etwa durch ständige Erreichbarkeit und Aktivierbarkeit weite Teile der Bevölkerung de facto zu aktiven Kämpfern werden können, während sie ihrem Alltag nachgehen, wie soll man Zivilisten von Soldaten unterscheiden? (Dahingehend wäre die Pager-Aktion tatsächlich brillant gewesen, insofern sie präzise jene attackiert, die nachweislich Teil des Hisbollah-Netzwerks sind, und »aus Sicherheitsgründen« diese konkrete Pager-Lieferung einsetzten. )

Und zweitens stellt sich bezüglich jeder Kriegs-Vereinbarung die große Frage, ob man wirklich das Risiko moralisch vertreten könnte, einen Krieg zu verlieren oder auch nur um einen Tag zu verlängern, womit man eigenes Leben riskiert und drangibt, nur um ätherische moralische Rechte zu wahren – also die Rechte derer, die einen angreifen!

Das Kriegsrecht ist de facto eine Anwendung der Spieltheorie. Jede Partei soll sich an Spielregeln halten, darauf hoffend, dass die andere Seite sich ebenso daran hält. Fragt mal die Jungs beim Fußballspiel auf dem Schulhof oder die Pokerspieler in irgendeiner Kaschemme, wie es sich mit dem Einhalten solcher Regeln in der Realität wirklich verhält.

Ich nannte es das vorletzte moralische Argument, das Israel braucht, dass wir im Westen noch nicht verstanden haben, was es bedeutet, mit ständiger Gefährdung durch Islamisten zu leben. Sogar einige Herrscher in der Region verstehen Israel besser als Europäer es tun. Aber Europäer werden es dank ihrer realitätsblinden Politik schon noch verstehen – und dann wird es womöglich zu spät sein.

Israels erstes und letztes und entscheidendes moralisches Argument heute ist aber ein anderes, und es lautet: »Na und, was wollt ihr tun?«

Super oder schrecklich

Ich gehöre nicht zu denen, die ohne weitere Rückfragen feiern, dass Israel die Hüften tausender potenzieller Hisbollah-Kämpfer im Libanon sprengt.

Ich gehöre auch nicht zu denen, die Israel das Recht absprechen, jene zu töten, die erklärterweise Israel und Juden auslöschen wollen.

Nicht jeder muss, wie Deutschland, Großbritannien oder Frankreich es tun, sich unterwürfig auf den Rücken legen, die eigene Kehle darbieten und diesen suizidalen Wahnsinn auch noch »Toleranz« nennen.

Total super

Ich habe keine moralische Auflösung, und die Suche danach ist nicht einmal das, was mich heute am meisten beschäftigt.

Ich bin ehrlich schockiert über meine Wahrnehmung, dass es einfach egal ist, ob eine Handlung moralisch gerechtfertigt ist.

Du findest Israels Vorgehen – wenn es denn Israel war – total super? Du findest es schrecklich? Die Wahrheit ist: Es ist egal. Es kümmert keinen. Es spielt keine Rolle, welches moralische Urteil du oder ich oder der Dalai Lama dazu fällen. Es spielt noch nicht einmal eine Rolle, welches juristische Urteil irgendwelche Völkerrechtler dazu fällen. Oder Völkerrechtlerinnen.

Sehr im Gegenteil

Dass es aber egal ist, ist nicht nur ein »Israel-Phänomen«. Schauen wir etwa nach Europa, in die EU. Die gesamte politische Existenz einer Ursula von der Leyen ist doch ein Beweis dafür, dass in der EU keine moralischen oder sonstigen über-politischen Werte mehr gelten. Oder, ebenfalls mit dieser Person verbunden, die gesamte Panik rund um das Geschenk aus Fernost – und der vorgeblichen Prävention aus Gen-Laboren. Wurde das aufgearbeitet? Sitzen die Verantwortlichen im Knast? Nein, sehr im Gegenteil. Oder »demokratische« Wahlen, die zur Farce werden, ob in den USA oder in Thüringen. Und so weiter und so fort.

Euch ist bei meiner kleinen Auflistung hier gewiss aufgefallen, dass wer heute noch auf allgemeingültigen Werten besteht, als »Rechter« abgetan wird und seine Meinung als »Desinformation« zensiert werden soll. Insofern ist die aktuelle Pager-Aktion im Libanon spannend. Diesbezüglich hat sich die gute/linke und böse/rechte Meinung noch nicht herauskristallisiert.

Die praktische Frage aber ist heute – und jeden Tag –, wie wir als einzelne Bürger, die gerade keiner supranationalen Macht angehören, mit dieser postmoralischen Realität umgehen.

Die großen Akteure tun nicht mal mehr so, als gelte für sie eine verbindliche Moral – oder irgendwelche wirklich verbindlichen Gesetze.

Gesetze und Moral sind nur für die Dummen und Kleinen, die wir zu doof oder zu machtlos sind, um uns ihnen zu entziehen.

Nein, darfst du nicht

Wenn du einen Kollegen hast, der dich nervt, dürftest auch du seinen Pager explodieren lassen? – Nein, dürftest du nicht. Auch dann nicht, wenn er Teil einer Organisation wäre, die dir Böses will.

Du darfst es nicht, denn über dir herrscht eine größere Macht. Über dieser aber herrscht wohl keine Moral, zumindest nicht dieselbe Moral, die sie dir beauftragen.

Die einzige Macht aber, die wir sogenannten Normalsterblichen über die über uns herrschenden Mächte haben, ist die Frechheit, über diese Leute zu lachen, wenn sie von Moral reden. Heute ist nicht so viel zu lachen, ich weiß – aber morgen wieder, bestimmt!

Weiterschreiben, Dushan!

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