Zu den wichtigsten Werkzeugen in jeder Werkstatt zählen die Messgeräte. Zeigen die Messgeräte falsche Ergebnisse an, wird der Mechaniker die falschen Maßnahmen beschließen – oder sogar eine drohende Gefahr übersehen.
Wenn ein Messgerät einen erkennbar falschen Wert anzeigt, oder wenn ein Alarm fälschlicherweise anschlägt oder nicht anschlägt, dann ist das frustrierend. Passiert so etwas oft genug, verliert der Mechaniker nach und nach das Vertrauen in diese Werkzeuge.
Wenn aber ein Werkzeug genau so funktioniert, wie es soll, wenn ein Messgerät ein erkennbar richtiges Ergebnis anzeigt, wenn ein Alarm genau richtig anschlägt, dann fühlt sich das befriedigend an. Der Mechaniker ist dann froh, dieses Werkzeug zur Hand zu haben.
Ja, die präzise Funktion des Werkzeugs wird manchen Heim- und Handwerker motivieren, seine Beherrschung dieses Werkzeugs zu vertiefen – oder sogar das Werkzeug weiterzuentwickeln. Was funktioniert, könnte besser funktionieren!
Präsidentenrede
Der deutsche Bundespräsident, Herr Frank-Walter Steinmeier, hat nun eine Rede an die Nation gehalten. Wie ist Steinmeiers Autorität in der Regierung, deren Chef ja Steinmeiers Parteigenosse ist?
Kein einziger Minister macht sich die Mühe, vorbeizukommen, Olaf »Erinnerungslücke« Scholz sowieso nicht.
bild.de, 28.10.2022 titelt: »Grundsatzrede im Schloss Bellevue: Steinmeier mit Klartext-Rede – doch die GANZE Regierung schwänzt«.
Phoenix hat die Rede auf YouTube gestellt. Man wird wissen, warum man die Kommentarfunktion abschaltete.
Es ist in diesen Tagen als mutig zu bewundern, wenn bei n-tv.de, 28.10.2022 der Kolumnist Hendrik Wieduwilt schreibt: »Steinmeier hat an diesem Freitag das Charisma einer Scheibe Graubrot, die jemand in der Spüle liegengelassen hat«, und: »Diese Rede war eine urdeutsche, aktendeckelige, nörgelige, diffuse Abrechnung mit der Gegenwart, gelangweilt ausgeteilt an die eigenen Bürger.«
Nicht nur an sich selbst
Steinmeier sagt: »Ich bin jedem dankbar, der an mehr denkt als nur sich selbst.«
Wieduwilt arbeitet sich an dieser gewiss als »zentral« geplanten Passage ab, und wir teilen dieses Interesse. Bei dieser Passage schlagen unsere Werkzeuge an. Wir können verstehen, warum diese Passage funktionieren sollte, aber eben nicht funktioniert.
Es steht zu vermuten, dass Steinmeier hier an Kennedys »Ask not« erinnern wollte: »Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.«
Jedoch, lassen Sie uns für einen Augenblick die Absurdität dieser Szene ausbuchstabieren. Da steht ein Herr im Schloss, dessen moralische Qualifikation für sein Amt sich nicht jedem Bürger unmittelbar erschließt, kassiert sechsstellige Jahresbezüge auf Lebenszeit, nicht von einer Firma, sondern vom Bürger.
Seit Jahrzehnten sehen Deutsche zu, wie ihr Wohlstand in Richtung anderer Länder und Nationen »umverteilt« wird, während immer mehr Deutsche auf die Armutsgrenze zusteuern – fragen Sie die »Tafeln«.
Die Politik genehmigt sich derweil Diätenerhöhung und milliardenschwere Neubauten. Und diesen Bürgern erdreistet sich Steinmeier zu sagen, sie sollen gefälligst nicht nur an sich selbst denken?
Es ist eine Unverschämtheit, die auf vergleichbarer Ebene zu erwidern uns der erwähnte § 90 StGB hindern könnte. (§ 90 StGB ist ein deutscher »Majestätsbeleidigungsparagraph«, der sicherstellt, dass wenn du dich vom Bundespräsidenten in deiner Ehre verletzt fühlst, du es ihm nicht in gefühlt gleicher Münze zurückzahlen darfst.)
Ein ähnlicher Geist
Wir haben das Werkzeug, recht präzise zu sagen, was alles mit der Rede des Bundespräsidenten schief ist.
2016 schrieb ich den Essay »Merkel – ihr Erbe wird ein Land ohne Verantwortungsgefühl sein« – und Steinmeiers moralischer Gestus ist ähnlich wie Merkels.
»Wir« taucht praktisch nur im Kontext moralischer Pflicht auf. Von oben verkündete Ethik ist immer eine Pflicht, meist die Pflicht, stumm zu ertragen, was die Politik einem antut – Stichwort »Toleranz« – wahlweise auch die Pflicht, mehr zu leisten, ohne davon etwas zu haben. Ich nannte es 2016 die »Pflichtenrepublik«.
Im Prinzip kann es ja funktionieren, dass ein Bessergestellter dem Volk ins Gewissen redet – aber nur genau dann, wenn er zuvor dem Volk auf tiefster emotionaler Ebene glaubhaft machen konnte, dass er kompatiblerelevante Strukturen hat. Wie sich »relevante Strukturen« in der politischen Rhetorik praktisch anwenden lassen, habe ich im Buch »Talking Points« ausbuchstabiert.
»außerordentlich«
Eine Randnotiz: Nicht jeder Promi fand die Rede schlecht. Der ehemalige Aufsichtsratschef und Lobbyist von BlackRock Deutschland, ein Herr Friedrich Merz, sagte zur Steinmeier-Rede einen Satz von geradezu glänzend geschliffener Brillanz, ja, einen Satz, mit welchem Merz erneut seinen Status als Deutschlands ideenreichster Rhetoriker unterstrich: »Das war eine außerordentlich wichtige Rede zum richtigen Zeitpunkt.« (rp-online.de, 28.10.2022)
Leider nicht kompatibel
Herr Steinmeier hat ein Relevanzproblem. Steinmeiers Problem ist nicht nur, dass seine eigenen relevanten Strukturen mit unseren inkompatibel sind.
Sein unüberwindbares Problem scheint zu sein, dass auch seine Redenschreiber und Textknechte keinen Kontakt mehr zur Welt außerhalb der Berliner Politblase haben.
Ein Chef muss nicht alles können. Aber er muss in der Lage sein, Leute zu finden (und zu motivieren!), welche Meister in ihren jeweiligen Aufgaben sind. Der Mann aber, der als Außenminister eine Frau Chebli für sich sprechen ließ, hat als Bundespräsident offenbar Redenschreiber gewählt, die für die nationale Raumtemperatur ähnlich sensibel sind wie Frau Chebli.
Warum funktioniert Steinmeiers Rede nicht? Warum »funktioniert« die öffentliche Persona dieses Präsidenten insgesamt nicht? Die Antwort fällt uns einfach, weil wir das theoretische Werkzeug haben: Weil seine relevanten Strukturen nicht die unseren sind – zu unseren nicht mal gut kompatibel zu sein scheinen.
(Zu »Kompatibilität«: Die relevanten Strukturen eines Donald J. Trump sind andere als unsere, doch es gelingt ihm, eine produktive Kompatibilität seiner relevanten Strukturen und der relevanten Strukturen seiner Zielgruppe zu demonstrieren.)
Froh werden
Es funktioniert nicht. Ja, das ist frustrierend, dass eine derart dysfunktionale »Elite« von deutschen Steuern finanziert und (angeblich) auch über das nähere Schicksal der Deutschen entscheiden soll.
Eines ist aber befriedigend: Unsere Werkzeuge funktionieren. Wir können sagen, warum deren Reden nicht (mehr) funktionieren, Satz für Satz.
Wenn wir an den Zeiten nicht so recht froh werden, so lasst uns immerhin klüger werden. Und klüger zu werden, das sollte uns doch ein klein wenig froh machen!