23.04.2025

Rosen, Moschus und Patschuli (und Dreck)

von Dushan Wegner, Lesezeit 3 Minuten, Blüten im Beton
Erfahrener Stadtbewohner zu sein bedeutet auch, Obdachlosen auszuweichen. Und wir müssen es auf eine Weise tun, die das »Problem« umschifft, aber den Ekel nicht zeigt (auch das gilt als unfein). Letztens aber, in unserer Stadt … ach, lest selbst!
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Einer unserer Obdachlosen besitzt seit heute Morgen eine Flasche Parfum. Vermutlich hat er sie irgendwo gefunden, jemand hat sie verloren oder, warum auch immer, fortgeworfen.

Jemand könnte sie ihm auch geschenkt haben, es wäre eine theoretische Möglichkeit. Die lieben Leute in dieser Stadt schenken den Armen und Verlorenen öfter etwas. Allerdings schenken sie den Obdachlosen meist Lebensmittel. Und dieses Parfum ist sehr deutlich ein Damenparfum.

Heute Morgen, wie an jedem Arbeitstag, eilten die Anständigen und Fleißigen auf den Gehwegen durch die Stadt und ihrem Ziel zu. Gute Eltern führten ihre gekämmten, fröhlich hüpfenden Kinder in ihren sauberen Schuluniformen in Richtung Schule. Ein feiner Morgen, nur eines war anders.

Die Veränderung war nicht, dass diese Menschen dem Obdachlosen auswichen. (In einer Stadt zu leben bedeutet auch, zu lernen, Obdachlosen auszuweichen, ohne allzu viel Ekel zu zeigen. Die Ungewaschenen zu berühren ist eklig, doch Ekel zu zeigen ist auf moralische Weise eklig.)

Der Obdachlose stand heute aber mitten auf dem Gehweg, statt wie üblich um diese Uhrzeit noch im Eingangsbereich eines derzeit leerstehenden Ladengeschäfts zu ruhen. Ja er stand auch noch an einer Ecke, an einer Kreuzung in Nähe der Bahn-Haltestelle, sodass viele, viele Anständige ihm ausweichen mussten.

Doch er stand nicht nur da – oh nein!

Der Obdachlose krakeelte etwas, und er gestikulierte – und er besprühte sich unablässig mit dem Damenparfum.

Der Geruch des Parfums war süß, blumig und schwer. Es roch, wie ich mir das Parfum von Operndivas vor hundert Jahren vorstelle.

Doch leider, leider war dieses Parfum nicht der einzige Geruch, der die Kreuzung und einen Umkreis von etwa zwanzig bis dreißig Metern füllte.

Der Obdachlose hatte sehr guten Grund, sich mit den duftenden Ölen zu benetzen, und wie!

Er stank.

Er stinkt immer, und heute Morgen stank er auch. Er stank – wie soll man es formulieren? – nach dem Menschlichen. (So einen Gestank habe ich noch bei keinem Tier erlebt, zumindest bei keinem lebendigen.)

Diese Straßenecke mit ihren eilenden Arbeitern und wohlgekämmten Kindern war getränkt von einer Mischung aus getrockneten Fäkalien und Rosen, Jasmin, Moschus und Patschuli.

Ich bin ein erfahrener Stadtbewohner. Ich ging zügig und mit Abstand – beides nicht zu auffällig – am sprühenden, stinkenden und gestikulierenden Obdachlosen vorbei. Nein, ich gab meinen Ekel nicht äußerlich zu erkennen. Ich habe auch gelernt, nicht äußerlich zu lachen, wenn Obdachlose etwas Lachhaftes tun. (Wie ich das lernte, ist wieder eine andere Geschichte.)

Im berühmten »sicheren Abstand« zückte ich mein iPhone und notierte diese Szene, um sie später für euch essayistisch aufzuarbeiten – hiermit geschehen.

Ich hatte das Gefühl, dass diese Szene eine Metapher für irgendetwas ist. Der Geruch von Dreck, der mit Parfum kaschiert werden soll, doch stattdessen eine neue blumige und doch zum Würgen reizende Melange ergibt.

Ja, ich überlegte, ob diese Szene nicht eine Metapher zum Beispiel für Propaganda sei, die ja auch … ach, lassen wir das! Manchmal ist eine Zigarre nur eine Zigarre, so sagten Freude, glaube ich. Und nicht alles ist eine Metapher. Vielleicht war die Szene auch nur Ausdruck tiefer, tragischer Menschlichkeit.

Der Obdachlose ist ein Mensch. Sein Zustand ist abstoßend, und vermutlich merkt er das, trotz aller Vewirrung. Er fühlt, dass er abstoßend ist, und auch ihm tut das weh.

Für einen Moment aber spielte er »feiner Mensch«.

Ich verstand nicht, was genau er rief, während er sich an jener Ecke einsprühte. Vielleicht wollte er sagen: »Wenn ich mich einsprühe mit diesem feinen Parfum, dann bin ich wie ihr!«

Am Obdachlosen ist wohl mehr »Menschliches« als nur die Ursachen seines Gestanks. Ich werde ihm noch immer ausweichen, kein Zweifel – er stinkt ja und ist womöglich verrückt. Doch wenn ich ihm ausweiche, werde ich mich daran erinnern, dass ich einem Menschen ausweiche. (Und weil ich solche erhabenen Gedanken praktiziere, werde ich mich noch überlegener fühlen.)

Weiterschreiben, Wegner!

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