28.02.2022

Ruinen und Auferstehung

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Foto von Artem Sapegin
»Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lasst uns Dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland« – müssen wir immer erst vor Ruinen stehen, um den Wunsch nach einem Neuanfang zu spüren?
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»Auferstanden aus Ruinen«, so sang man einst in der DDR, und man muss nicht die SED gut finden, um die Schönheit und, ja, Wahrheit in jenen Worten zu hören: »Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lasst uns Dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland.« (Der SED wurden irgendwann die Worte »Deutschland, einig Vaterland« unangenehm, denn die Bundesrepublik sollte »Ausland« sein. Man ließ die Nationalhymne ohne Text spielen. Man seufzt über die Ironie, dass für die heutige Linke »Deutschland, einig Vaterland« wieder ein böser Gedanke ist, man sich aber nicht mehr am Wort »einig« stört, sondern vielmehr an »Deutschland« und »Vaterland«.)

Ich denke aber heute über die ersten drei Wörter nach, vom ersten Kontext losgelöst, und ich frage mich, und ich meine es durchaus ernst: Was bedeutet es eigentlich, aus Ruinen auferstanden zu sein? Was unterscheidet es von »gewöhnlicher« Entstehung?

Etwas Metaphysik sei erlaubt: Erinnern sich die Ruinen womöglich selbst an das, was sie einst waren? Die Asche des Phönix ist ja wesentlich der Phönix, auch als Asche. »Erinnert« sich die Ruine an das, was sie war, und fällt es also leichter, aus ihr das Neue, aber Fortführende zu bauen?

Ach, wenn ich schon derart ätherische Gedanken formuliere, kann ich ja noch einen Schritt weitergehen! Hat die Materie (z.B. der Ruinen) ein Gedächtnis? Eine Feder weiß sich zurück in ihre ursprüngliche Form zurückzubiegen, und ein See kommt, wenn der Sturm nachlässt, wieder zur glatten Ruhe, doch kann sich Materie auch an ihren Zweck erinnern? (Es wird eine Rolle spielen, dass Menschen ihr diese »höhere Ordnung« vorgaben.)

Diese Frage muss wohl Kunst sein, denn es geht mir mit der Frage wie mit einem Musikstück oder einem Gemälde: Ich könnte nicht in Worten zu Protokoll geben, was es bedeutet, doch es bewegt mich, es berührt mich, um es extra dramatisch zu formulieren: Es tut etwas mit mir.


In unserem Wohnzimmer steht ein Tisch aus recht unbearbeitetem Holz (während ich dies schreibe haben die Kinder den Tisch in Beschlag genommen für ein größeres Lego-Projekt über die freien Karnevals-Tage).

Es wäre eine schöne Vorstellung, dass das Holz des Tisches noch eine Erinnerung an den Wald in sich trägt, in welchem sein Baum einst stand. Das Holz zog Nährstoffe aus dem Boden und sog die Wärme der Sonne in sich auf. Man könnte fragen: Hat der Baum in seinem Holz so eine »Energie« gespeichert, die nun meine Kinder beim Lego-Spielen unterstützt?

Es ist metaphysisch und logisch leichtfüßig und was-weiß-ich – ich weiß, ich weiß, es sei alles zugegeben – und doch ist es eine schöne Vorstellung. Die Lebenserfahrung lehrt mich, dass Schönheit eine eigene Art der Wahrheit ist, und was wahr ist, will ich doch nicht leugnen, nur weil ich es nicht gleich zu erklären vermag!

Ich stelle mir eine alte Steinbrücke vor, die von Wind und Wetter zu Krümeln gemahlen wurde. Erst hatte sich nur ein Riss gebildet, vielleicht durch Hitze oder durch eine kleine Verschiebung der Erde. Wasser drang hinein, gefror über Nacht und sprengte den Riss weit auf. Ich stelle mir vor, dass durch besondere Umstände diese Brücke nicht nur schwer beschädigt wurde, sondern förmlich zu Sand und Staub zermahlen. – Erinnern sich die Brückentrümmer, dass sie mal Brücke waren?


Ich könnte nicht auf Nachkommastellen genau angeben, was es bedeutet, dass Materie »ein Gedächtnis« besitzt – für ein Gedächtnis braucht es doch ein Gehirn! – die Vorstellung aber bleibt schön: Erinnert sich der Sand, dass er eine Brücke war? Steckt das Brücke-gewesen-Sein in den Körnern des Sandes, zu dem das Wetter die Brücke werden ließ?

Wer gelegentlich in Deutschlands Kleinkunst-Szenen unterwegs ist, sei es in Köln, in Berlin oder in anderen gewiss-sehr-charmanten Städten, der trifft schon mal auf Menschen, die fest daran glauben, in einem früheren Leben etwa eine Königin oder auch mal ein Märtyrer gewesen zu sein, vielleicht sogar die Pharaonin Hatschepsut!

Zyniker merken hierzu gelegentlich an, dass Menschen, die an ihre Wiedergeburt glauben, sich bemerkenswerterweise nie daran »erinnern«, in einem früheren Leben etwa ein Trickdieb, ein Mörder oder ein unglücklicher Bettler gewesen zu sein, der an der Pest verstarb.

Was dem Zyniker wie eine Widerlegung des gesamten Konzeptes »Wiedergeburt« erscheint (wobei eine Widerlegung halb müßig ist, denn nur wenige würden behaupten, Wiedergeburt belegen zu können), das stärkt die Idee vielmehr, so meine ich, wenn man nur die Lichtquelle zur Deutung um einige Grad dreht.

Ohne Anspruch auf dogmatische Richtigkeit oder ideologische Rückwärtskompatibilität wage ich diese These: In Ideen wie Wiedergeburt, Seelenwanderung und einem Erinnerungsvermögen der Materie steckt mutmachende Kraft und mentale Energie, wenn man sie als inhärente Möglichkeit deutet.

Der Sand, zu dem die Brücke zermahlen wurde, er kann ja wieder zu einer neuen Brücke werden, ob man es nun das Gedächtnisvermögen der Materie oder schlicht Bauschutt-Recycling nennt (deutschlandfunknova.de, 21.10.2019: »Nachhaltiges Bauen – Alten Schutt in neuen Beton umwandeln«).

Ich glaube gern dem Menschen, der selbst glaubt, in einem früheren Leben ein Pharao oder ein König gewesen zu sein, ein großer Erfinder, ein Maler oder auch ein edler Märtyrer; ich glaube ihm, denn ich deute seine Worte so, dass ich eine Wahrheit in ihnen erkenne, einen Wunsch nach Größerem: Er spürt in sich die Möglichkeit, große Werte unserer Vorfahren neu zum Leben zu erwecken. Er sehnt sich nach dem Majestätischen des königlichen Hofs, oder nach der Kraft und dem reinen Gewissen des Märtyrers, welcher noch in den Flammen des Scheiterhaufens das letzte und wichtigste Hosianna anzustimmen vermag.


Ach, so manche Zeile, so mancher Gedanke jener Hymne klingt, als sei er für uns heute geschrieben. Ich will die ganze zweite Strophe hier zitieren, als Fließtext: »Glück und Friede sei beschieden, Deutschland, unserm Vaterland. Alle Welt sehnt sich nach Frieden, reicht den Völkern eure Hand. Wenn wir brüderlich uns einen, schlagen wir des Volkes Feind! Lasst das Licht des Friedens scheinen, dass nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint – ihren Sohn beweint.«

Dass die SED mordete und bis heute die Moral nur als Mittel-zur-Macht kennt, dass »ehemalige« SED-Mitglieder in hohe West-Funktionen gelangten, womöglich auch beim westdeutschen Staatsfunk, dass der »elende Rest« der »Drachenbrut« (Zitat Biermann) seine sozialistischen Ärsche im Bundestag breitsitzt und feist abkassiert, ja dass die umbenannte SED nach demokratisch sehr fragwürdigen Vorgängen in Thüringen einen »Ministerpräsidenten von Merkels Gnaden« stellt, all das ändert nichts daran, dass in den Worten der alten, lange Zeit nur schweigend gesungenen Hymne wahre Schönheit liegt. (Die Demonstranten und Bürgerrechtler, die sie 1989 wieder sangen, sie werden vom deutschen Staatsfunk heute angegriffen und verleumdet; siehe daserste.ndr.de, 26.11.2020.)

»Lasst uns pflügen, lasst uns bauen, lernt und schafft wie nie zuvor« – man könnte mit Gewinn über manche Zeile jener Hymne meditieren, ich denke heute aber über einen Gedanken nach, der zu den ersten drei Wörtern passt: »Auferstanden aus Ruinen«.

Ich frage mich, wie bei eigentlich allem, worüber ich nachdenke: Was bedeutet es, aus Ruinen aufzuerstehen, so metaphysisch betrachtet?


Es ist mir eine Ehre, heute Ihr Essayist zu sein, und ich bin es in Jahren, die ich im Essay vom 1.2.2019 als »ein merkwürdiger Zeitpunkt in unserem Leben« beschrieb.

Den meisten von uns geht es noch immer wirtschaftlich stabil – mindestens im globalen Vergleich. Jedoch: Kinder, die heute aufwachsen, lernen die Welt als eine Abfolge großer Krisen kennen – und doch überleben wir eine internationale Krise nach der anderen.

Ja, wir überleben zuverlässig (und wer es nicht tut, der kann eben nicht darüber berichten, er ist also nicht mehr Teil des aktuellen Wir…), und selbst wenn in den Nachrichten vom Dritten Weltkrieg die Rede ist und wir die Einschläge spüren, geraten wir nicht mehr in Panik, denn wir haben den Zerfall als Dauerzustand akzeptiert.

Welche Wahl hatten wir denn, als uns mit dem »dauernden Zerfall« abzufinden? Den Zerfall als Dauerzustand zu akzeptieren, das scheint (räusper…) »alternativlos«, doch wir erinnern uns, wie es früher war – wer und was wir früher waren.

Dieser Staub erinnert sich, wer und was er früher war, und er will wieder werden, um aufs Neue zu sein.

Ich bin überzeugt, dass echte Hoffnung stets mit eigenem Handeln einhergeht, mit Tat und Aktion. Doch was sollen wir tun, damit wieder Hoffnung entsteht?

Ich stelle mir selbst die Frage – gern an Ihrer Stelle – und ich antworte: »Erinnere« dich, was du werden solltest, was du als Möglichkeit schon immer warst – und dann arbeite an deiner eigenen Auferstehung, aus den Ruinen des Möglichen, aus den Brocken und Bruchstücken, die deine Zukunft werden wollen.

Weiterschreiben, Wegner!

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