Dushan-Wegner

02.01.2023

Was wäre schlimmer als beide Arme ab?

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild: DW via Stable Diffusion
Ein Mann verlor seine Hand durch einen Böller. Ein anderer Mann sogar beide Unterarme. Ich grübele: Wie schlimm wäre es, durch Unachtsamkeit das ganze Leben zu verplempern – und es zu spät zu merken!
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Ich traf einmal einen an Geld reichen und im persönlichen Leben erfolgreichen Mann, und im Gespräch sagte er zu mir: Nicht nur die Kunst des Unternehmertums, sondern auch die Kunst des Lebens besteht darin, jede Entscheidung und jede Nicht-Entscheidung als »Trade-Off« zu sehen. (Ja, er sprach »Denglisch«, das tun Businessleute so, drum heißen sie auch »Businessleute«.)

»Trade-off«, so wie er es meinte, lässt sich übersetzen als Tausch oder Handel.

Im Essay »Walden, steht deine Hütte noch« habe ich 2018 ein Geschichtchen vom »Meister« eingebaut, der einem Schüler eine Schüssel voller Äpfel hinhält. Dieser wählt einen, und der Meister fragt dann, warum der Schüler sich gegen die anderen Äpfel entschieden habe. Die Lehre: Jede Entscheidung für etwas ist mindestens auch eine Entscheidung gegen alle übrigen Möglichkeiten.

Zwei Unterarme, eine Hand

Laut aktuellen Meldungen haben zwei Thüringer während der Silvesternacht schwerste Verletzungen durch Feuerwerkskörper erlitten (so berichtet focus.de, 1.1.2023).

Einem 42-Jährigen wurden beide Unterarme amputiert

Ein 21-jähriger Mann verlor seine Hand, als eine Kugelbombe direkt nach dem Anzünden ihm in der nun ehemaligen Hand explodierte.

Trotz ihrer schweren Verletzungen sind wohl beide Männer nicht mehr in Lebensgefahr.

Alles ist ein Deal

Ich denke dieser Tage immer wieder an jene Belehrung, dass jede Handlung ein Trade-Off sei, ein Deal, ein Handel, ein Tausch von etwas gegen etwas.

Gestern, im Text »Schuld daran, aber dagegen« sprach ich mich gegen die von Grünen angedeuteten Alkoholverbote aus – und auch gegen die Selbstlügen des Einzelnen, Alkoholkonsum sei etwas anderes als der Deal »Etwas mehr Glücklichsein jetzt gegen Schäden an Hirn und Körper später«.

Und heute betrachte ich den »Tauschhandel«, den diese beiden Herren implizit schlossen.

Der Deal der Männer lautete: Adrenalin und andere als positiv empfundene Hormone im Augenblick, gegen das Risiko, Teile des Körpers zu verlieren.

Inzwischen bereuen sie das Geschäft womöglich, doch das vermutlich vor allem aus dem Grund, dass das Risiko zur Realität wurde. Wenn sie (wieder?) »damit davongekommen« wären, würden sie nach aller Lebenserfahrung eher euphorisch von ihren explosiven Heldentaten berichten.

Auf der einen Hand ist nun eine Hand ab (beziehungsweise beide Unterarme) – auf der anderen Hand (bildlich gesprochen), geht deren Leben eben weiter. (An dieser Stelle will ich allen Ärzten, die hier mitlesen, einfach mal herzlich dafür danken, dass Sie Ihr Leben der Aufgabe gewidmet haben, unser jeweiliges Ende möglichst weit hinauszuzögern – und die Zeit bis dahin einigermaßen schmerzfrei zu halten.)

Die beiden Herren haben einen Tauschhandel gewählt, dessen Folgen sie für den Rest des Lebens prägen wird.

Jedoch, es gibt Schlimmeres, als beide Arme zu verlieren, und damit meine ich nicht einmal die Augen, und »das Leben« meine ich hier im abstrakteren Sinn.

Erstmal weiterarbeiten

In den Essays »Neu gehen lernen« von 2020 und »Mit beiden Füßen« von 2021 erwähnte ich das Phänomen, dass Leute, denen nach einem Unfall das Bein amputiert wird, nach einigen Jahren mit ihrem Leben nicht selten glücklicher sind als Leute, die eine große Summe im Lotto gewannen. Ich erwähne es hier noch einmal, weil es passend scheint, und vor allem, weil es eine wichtige Lektion enthält, die sich mir und uns einprägen soll.

Der Verlust von Gliedmaßen zwingt die Menschen dazu, ihr Leben neu zu planen – und so mancher denkt in dem Moment zum ersten Mal in seinem Leben über ebendieses nach.

Weil seine Möglichkeiten ab da eingeschränkt sind, denkt der Amputierte neu darüber nach, was seine relevanten Strukturen sind. Er hat ab da wenig Wahl, als mit seiner ganzen Kraft die neuen Hindernisse zu überwinden und für das zu kämpfen, was ihm wirklich wichtig ist.

So schlimm der Verlust von Gliedmaßen auch ist – einige der Handlungen, die der Mensch danach zu tun gezwungen ist, sind eben solche Handlungen, welche seit Jahrtausenden die Grundlage des Glücks bilden.

Der Lottogewinner aber kommt zu Geld ohne entsprechende Gegenleistung, er hat also weder sich noch größere Hindernisse zu diesem Zwecke überwunden. Das Erlangen des Geldes konnte seinen Charakter gar nicht auf günstige Weise formen – doch der Besitz des Geldes könnte mit einiger Wahrscheinlichkeit in ihm unschöne Eigenschaften wecken. (Es gibt professionelle »Lottoberater«, und die empfehlen Gewinnern nicht nur zu schweigen, sondern auch erstmal weiterzuarbeiten; siehe tagesspiegel.de, 6.12.2017.)

Man sagt nicht »armtot«

Natürlich tut es mir um die beiden Herren leid, denn deren Tauschhandel ging gründlich daneben, doch ich wage einen weiteren Gedanken: Wie viele Leute wollen vermeintliche Sicherheit, das billigen Lob der Bekannten oder ein ätherisches Ding namens »Karriere«, und zahlen dafür mit nichts weniger als dem Sinn ihres Lebens – und damit mit dem Leben selbst?

»Denn was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele?«, so fragt Jesus (Markus 8:36).

Es ist schrecklich, beide Unterarme zu verlieren. Doch auf anderer, nicht-körperlicher Ebene gibt es Schlimmeres.

Der Bürokrat, der eigentlich lieber Kleinunternehmer wäre, doch sich nicht den Ruck geben kann, die Unsicherheit auf sich zu nehmen. Oder ein Anwalt, der im Herzen so viel lieber Musiker wäre, doch den sozialen Status seines Berufs nicht missen will. Wiegen Sicherheit oder Ansehen (oder die Anwesenheit beider Arme) es wirklich auf, wenn man nicht das Leben lebt, das man tief in der Seele eigentlich leben will?

Und dann natürlich der Nachbar, der unentwegt nachplappert, was er im Staatsfunk hört – hat der nicht bereits wichtige Funktionen seines Gehirns aufgegeben? Das Gehirn ist doch wichtiger als ein oder sogar zwei Arme, denn wir erklären einen Menschen ja nicht für »armtot«, sondern für »gehirntot«!

Doppelter Mut, tägliche Kraft

Ich denke an die beiden Männer, die so wichtige Haltewerkzeuge ihres Körpers verloren. Ich vermute, dass die Entscheidungen, die sie im Leben an jenen Punkt führten, darauf schließen lassen, dass sie sich auch sonst von mir unterscheiden. (Ich bin realweltlich weit weniger mutig!)

Ich wünsche den beiden Herren eine rasche Genesung, und dass sie ihr Leben mit den neuen Umständen auf neue Weise erfolgreich definieren.

Die Frage ist doch nicht, ob die beiden Herren einen guten, langfristig klugen »Trade-Off« wählten – sie werden die ersten sein, die bestätigen, dass sie es nicht taten. – Die Frage ist, ob wir jeden Tag mit unserer Lebenszeit einen guten Deal wählen.

Rolle nicht die Augen ob dieser beider Herren – prüfe lieber, ob du dein Leben genau so lebst, wie du es leben willst.

Mancher stellt irgendwann fest, dass alles, was es gebraucht hätte, um sein Leben nicht zu verplempern, etwas Mut gewesen wäre.

Der Mut, sich einzugestehen, was man wirklich tun will – und auch so mancher anderen Realität ins Auge zu sehen.

Der Mut, die entsprechenden Entscheidungen einzuleiten.

Und zum doppelten Mut dann auch die tägliche Kraft, die richtigen Entscheidungen tatsächlich umzusetzen.

Weiterschreiben, Wegner!

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