Ich höre dieser Tage immer wieder, man solle über gewisse Probleme »ehrlich reden«. Ich höre, dass es im TV gesagt wurde, ich lese in Mainstream-Zeitungen davon. – Lasst mich eine Geschichte dazu erzählen!
Stell dir vor, in deiner Stadt ist ein Park, und in diesem Park wohnt ein einst wunderschöner Parksee.
Viele Jahre und Jahrzehnte lang haben sich Bürger dieser Stadt und deren Wochenendgäste ihre Sonntage und damit ihr Leben auf und an diesem Parksee verschönert.
Zum Beispiel, indem sie ein Ruder- oder Tretboot mieteten und damit ein paar wohlgemessene, wohlgesittete Runden auf dem Parksee drehten. (Zu Details hierzu siehe meine einführende Abhandlung »Hinweise zur Schifffahrt auf Parkseen«.)
In der letzten Zeit allerdings, so hört man, ist der Parksee von Seerosen befallen. (Andere Erzählungen berichten von Algen. Ich mag aber Seerosen lieber. Ich hatte mal einen Teich mit einer Seerose.)
Die Seerosen auf diesem Parksee vermehren sich rapide, und sie vermehren ihre Zahl und die abgedeckte Wasseroberfläche jeden Tag. In diesem Beispiel sind jeden Tag doppel so viele Seerose da wie am Tag zuvor.
Zehn Tage vor der vollständigen Bedeckung ist kaum etwas zu sehen: nur etwa 0,1 % der Wasserfläche sind von Seerosen bedeckt.
Neun Tage vorher sind es 0,2 %, acht Tage 0,4 %.
Am siebten Tag vor der vollständigen Ausbreitung bedecken sie gerade mal 0,8 %.
Sechs Tage vorher 1,6 %.
Allerdings: In diesem Beispiel dauert es drei Tage, bis diese Entwicklung gestoppt werden kann. Wenn ich an einem beliebigen Zeitpunkt beschließe, die Ausbreitung zu beenden oder umzukehren, braucht es drei Tage, bis meine Maßnahmen greifen.
Fünf Tage vorher sind es 3,1 %.
Erst vier Tage vor dem Ende sind 6,3 % bedeckt. Drei Tage vorher 12,5 %.
Zwei Tage vorher 25 %.
Einen Tag vor der völligen Bedeckung ist erst die Hälfte des Teiches mit Seerosen bedeckt.
Am letzten Tag schließlich verdoppelt sich die Fläche ein letztes Mal und der ganze Teich ist bedeckt.
Frage: Wenn das Stoppen des Seerosenwachstums drei Tage dauert, wann ist der kritische Punkt erreicht, an dem man es hätte stoppen müssen?
Die Antwort: Drei Tage vorher ist es bereits zu spät, die vollständige Bedeckung und damit das Kippen des Sees zu verhindern.
Drei Tage vor der vollen Bedeckung liegt die Seerosenbedeckung allerdings bei nur 12,5 %.
Wenn du selbst zu diesem Zeitpunkt, 12,5 %, konkrete Maßnahmen vorschlägst, wird man dich auslachen: »Läppische 12,5 %! Wer macht so einen Aufstand wegen 12,5 %?«
Doch tatsächlich ist es bei 12,5 % bereits zu spät. Selbst wenn man sofort konkrete Maßnahmen zum Stoppen des Seerosewachstums einleiten würde, würden diese ja erst drei Tage später greifen.
Erinnern wir uns an die Prozente: 12,5 % (Tag 0 der Maßnahme), wird zu 25 % (Tag 1). Das wird zu 50 % (Tag 2) – und schließlich zu 100 % (Tag 3).
Beim Versuch aber, sich von 100 % aus zu verdoppeln (in der unmetaphorischen Praxis meist früher), »kippt« der Parksee.
Wenn wir den See wirklich hätten retten wollen, hätten wir die Maßnahmen einleiten müssen, als der See nur zu 6,3 % bedeckt war.
Das Prinzip dahinter hat mit Exponentialrechnung zu tun, und den meisten Menschen fehlt ein natürliches Gefühl dafür. Wenn also ein »Prophet« bei nur 6,3 % Bedeckung zu dringenden Maßnahmen gegen die Seerosen aufruft, wird er vermutlich ausgelacht und beschimpft werden.
»Was hast du gegen die Seerosen? Nur 6,3 % des Sees sind bedeckt, das kann dich doch nicht stören! Du bist doch krank im Kopf. Jaja, der Parksee in der Nachbarstadt ist letztes Jahr gekippt, aber hier ist das doch anders. Hier sind nur 6,3 % …« und so weiter.
Ja, wir sollten tatsächlich »ehrlich« reden. Aber wirklich ehrlich – über das, was heute der Fall ist.
Zu den paar Dingen, auf die ich mit ebenso viel Selbstbewusstsein wie Hilflosigkeit hinweisen kann, gehört die Tatsache, dass ich in nicht wenigen der bisherigen 2.372 Essays auf das, metaphorisch gesprochen, »Seerosenproblem« hingewiesen habe. Und mit den »Seerosen« meine ich bestimmte soziale und finanzielle Widersprüche, die ab einem bestimmten Punkt nicht mehr aufzulösen sind. (Ähnlich wie ein verknotetes Wollknäuel ab einem bestimmten Grad der Verknotung nicht mehr zu entknoten ist – sondern nur noch zerschnitten oder aufgegeben werden kann.)
Ja, wir sollten uns ehrlich machen. Wir sollten ehrlich reden. Doch wenn heute Publizisten ehrlich reden wollen, dann meinen sie zumeist Debatten, die vor 10 Jahren hätten ehrlich geführt werden sollen.
Heute sind es andere Debatten und Fragen, die ehrlich geführt zu werden anstehen.
Und einige Fragen solltest du dir selbst ehrlich und offen stellen.
Etwa diese: Wie planst du, dein Tretboot weiterhin lustig im Kreis zu fahren, wenn der See ganz mit Seerosen bedeckt ist?