Es ist dem Menschen angeboren, von dem Gesicht eines Menschen auf dessen innere Zustände zu schließen. Das hat die Evolution uns so einprogrammiert. (Und »einprogrammiert« bedeutet, dass diejenigen, welche dies intuitiv beherrschten, eher überlebten – und die anderen ausstarben.)
Wer nicht von Natur aus vom Gesicht des Menschen auf dessen wahre Absicht zu schließen vermag, ist leichter zu betrügen. Deshalb trainiert die Propaganda den Menschen im Westen von klein auf ab, auf ihr angeborenes Bauchgefühl zu hören. Wer lernt, im Umgang mit Autoritäten seine Intuition zu ignorieren, ist leichter zu betrügen.
Was sagt uns aber unser Bauchgefühl, wenn wir die Fotos des gealterten Adolf Eichmann sehen? (Link zu Foto bei Wikipedia)
Es war Hannah Arendt, die den Ausdruck »die Banalität des Bösen« prägte. Arendt beschrieb damit ihren Eindruck aus dem Prozess gegen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Und »banal« ist eine sehr treffende Beschreibung für diese böse Gestalt.
Ich sehe das Foto und frage mich, was wohl hinter seinen bebrillten Augen vorging. Was dachte er?
Nach mehreren abgebrochenen Versuchen, eine Ausbildung zu absolvieren, hatte der junge Adolf Eichmann sich der NSDAP angeschlossen. Eichmann schrieb Pamphlete gegen Juden, forderte Pogrome und schlug Auswanderung vor. Aus Worten wurden Taten. Eichmann begutachtete unter anderem das industriell organisierte Ermorden. Er organisierte Massendeportationen in Vernichtungslager. Er floh nach Argentinien, wurde vom Mossad aufgespürt und nach Israel gebracht.
Im israelischen Gefängnis schrieb Eichmann seine Erinnerungen auf, in zwei Fassungen (nachzulesen auf schoah.org). Und auch diese Erinnerungen lesen sich banal, wenngleich eloquent.
Eichmann beginnt sein Manuskript mit Empfehlungen für die Auswahl des Lektors: »Die Art meines ›Schreibens‹ ist eher ›süddeutsch-bajuvarisch‹ zu nennen. Sollte der Lektor aus diesem Raume stammen, ist es möglich, daß es für das Buch von Vorteil wäre.«
Wir lesen weiter. Wir erfahren von unbeschwerter Jugendzeit, wir meinen eine Liebe zum Leben zu spüren: »Und auch als junger Mann – wie man zu sagen pflegte – waren es Tage von Liebe, Lenz und Leben, die mir geboten wurden. Motorsport, Bergsport, Arbeit, Kaffeehaus, Freunde, auch Freundinnen – warum auch nicht – füllten die Tage und Jahre aus. Gar manche heimelige Weinstube lockte zur Einkehr und in ihren alten Gemäuern ließ es sich gut sitzen.« (Eichmann, via schoah.org).
Liest man weiter, erfährt man von jüdischen Freunden des Vaters. Von einer vollständigen Neutralität der Familie in dieser Frage. Von Befehlen der Obrigkeit, auf Auswanderung der Juden zu drängen. Liest man noch weiter, taucht mit dem Wort »Juden« immer häufiger das Wort »Vernichtung« auf, etwa in Formulierungen wie »die physische Vernichtung der Juden«. Die hat »der Führer« angeordnet, so schreibt Eichmann. Wir lesen von einer »Endlösung« und von der Frage, ob er, Eichmann, hierfür in den von Deutschland besetzten Gebieten verantwortlich war. Und so weiter. Alles sehr banal. Es beginnt »am 19. März 1906 in […] Solingen, im Rheinland«, ging weiter, mit Weinstuben und Freundinnen – warum auch nicht. Es mündet in vielstelligen Zahlen von zu »vernichtenden« Menschen. Und es endet, in diesem konkreten Fall, mit der Hinrichtung durch den Strick am 1.6.1962 um 0:02 Uhr in Ramla, mitten in Israel.
Doch, verlieren wir uns nicht in Textanalysen. Wagen wir es, den Fokus auf einen Aspekt der Banalität zu richten, einen Aspekt, der vor allem Text liegt: Wir betrachten das Foto.
Ich sehe die bebrillten Augen des Menschen, den Arendt als einen »Hanswurst« ohne jede »teuflisch-dämonische Tiefe« bezeichnete.
Ich versuche, darauf zu schließen, was hinter diesen Augen vorging.
Ich bedenke seine in israelischer Gefangenschaft verfassten Erinnerungen. Ich muss mir eingestehen: Selbst wenn diese nicht zu dem Zweck geschrieben worden wären, seine Verantwortung und damit Schuld kleinzureden, sind diese verschriftlichten Erinnerungen für meine Frage wenig hilfreich. Das in jenen Texten manifestierte Bewusstsein ist das des Gefangenen von 1961, nicht das des Handelnden von 1940.
Ich muss mir eingestehen, dass der handelnde Eichmann vermutlich eben nicht darüber nachdachte, warum er tat, was er tat. Er tat, was die intelligenten Instanzen in seinem Unterbewusstsein gerade für opportun hielten.
Hinter seinen Augen war vermutlich nichts, und hätte man ihn gefragt, warum er tat, was er tat, hätte er gewiss mit den Floskeln seiner Zeit geantwortet – und die waren eben antisemitisch –, in Wahrheit damit jedoch nichts gesagt.
Einer der Gründe, warum Menschen bislang keine Außerirdischen im Weltall entdeckt haben, könnte auch der sein, dass wir uns andere intelligente Lebensformen als Variationen der Menschenform vorstellen.
Eine ganz andere Form intelligenter Instanzen, etwa Intelligenz mit Gasnebel-Plasma, Magnetfeldern oder Informationsfeldern als Trägern, ist zu weit entfernt von unserem Intelligenz-Prototypen Mensch.
Ähnlich ist es vielleicht mit Gestalten wie Adolf Eichmann. Ich selbst bin ja kontinuierlich in einem inneren Dialog aus Selbstbefragung, Selbstzweifeln und im besten Fall Selbstkorrektur, ja, gefangen.
Ich tue mich schwer mit der Vorstellung, wie es in Menschen zugehen mag, die weitgehend ohne tieferes Bewusstsein, also auch ohne Gewissenbisse leben.
Ich »verstehe« Menschen nicht, die jederzeit sagen und befehlen können, was zu sagen oder zu befehlen gerade opportun ist, sprich: was ein vulgärer und primitiver, aber durchaus nützlicher Automatismus sie sagen lässt.
Es existieren vermutlich Menschen, in derem Inneren eben nichts stattfindet, das mit meinen gewissensgeplagten Selbstbetrachtungen vergleichbar wäre.
Ein Grund, warum es einigen dieser Menschen so leicht fällt, derart banal und lapidar Böses zu tun, zu lügen und den Tod über ihre Mitmenschen zu bringen, liegt wohl darin, dass selbst wenn sie – wie Eichmann – über Millionen von Toten reden, dies für sie nur Worte bleiben.
Wer nicht von der Pein tieferer seelischer Vorgänge belastet ist, dem bedeuten Worte auch wenig – zumindest Worte, die – anders als Weinstube und Kontostand – so etwas wie Empathie voraussetzen.
Ich schreibe diesen Text, weil mich seit Tagen im Jahr 2025 und eigentlich schon seit einiger Zeit zuvor immer wieder ein Gefühl erfasst, das mich auf erschreckende Weise an das Rätsel beim Betrachten der Eichmann-Fotos erinnert.
Ich sehe und höre gewisse Politiker reden und frage mich: Was geht in deren Seele vor?
Mein Verdacht ist aber wieder: Vermutlich geht da nichts vor.
Ich höre deutsche Politiker, Funktionäre und TV-Promis, die selbstbewusst banal-böse Dinge sagen, die Demokratie abschaffen, Deutschland schwächen und Andersdenkende aus der Gesellschaft ausschließen wollen. Ich möchte mich fragen: »Kann ein Menschen wirklich so abgrundtief böse sein?«
Nein, diese Menschen wollen nicht Böses tun. Und auch wenn sie von Moral reden, dann meinen sie es vermutlich nicht. Es sind Versatzstücke von Worten, die sie reproduzieren, wie primitive Roboter, denn aus Erfahrung wissen sie, dass bestimmte Worte bestimmte Reaktionen erzeugen. Hinter ihren Augen aber passiert, vermutlich, nichts, außer automatisierte Berechnungen. Roboter sind »Wenn-Dann-Maschinen«, manche unserer Mitmenschen wohl auch.
Dieselbe Art von Streichholz kann eine Kerze oder eine Kathedrale anzünden. Und wer dies feststellt, hat damit nicht gesagt, dass das Licht der Kerze und der Brand des Kathedrale dasselbe sind.
Ich sage also nicht, dass einer, der heute böse und dumme Dinge fordert, ein neuer Eichmann ist.
Ich stelle aber fest: Jener Typ von Mensch, bei dem hinter den Augen vermutlich nichts stattfindet, während er mit banalen Worten lügt und mit willigem Abnicken böse Dinge einleitet, dieser Typ Mensch ist nicht mit Eichmann am Galgen gestorben.
Dieser Typ Mensch lebt noch – wenn man mit »leben« so etwas meint wie »biologisches Funktionieren«, »Floskeln nachplappern« und »den Kontostand monatlich aufgefüllt bekommen«.
Wir sehen und spüren sie ja um uns, in Ämtern und in Verantwortung, feist und dreist, so wortreich wie seelenlos.
Und doch, und umso mehr: Von Gewissen, Gefühlen und Gedächtnis geplagt versuchen wir, umgeben von Banalität, Borniertheit und Bosheit, ein lebenswertes Leben zu leben.