Mein Gehirn sagt immerzu (und zumeist unbewusst) voraus, was als Nächstes passieren wird, doch um all diese Vorhersagen treffen zu können, brauche ich genug Anhaltspunkte und ausreichenden Kontext. Ich richte mich nach dem Horizont und hangele mich an den Wegmarken entlang – bildlich gesprochen.
In der Stille, in der Abwesenheit von Wegmarken ist es schwer, Vorhersagen darüber zu treffen, was selbst in naher Zukunft passieren wird. (Deshalb sind leise elektrische Autos etwas gruselig, wenn man gewohnt ist, dass Autos mit Verbrennungsmotoren sich durch ihren – nervigen, aber auch möglicherweise lebensrettenden – Krach vorab ankündigen.)
Ein Pilot, der nicht den realen Horizont sieht, braucht einen künstlichen Horizont und andere Gerätschaften. Wenn er die nicht hat, sondern in einer Art »visueller Stille« fliegt, verliert er bald die Orientierung und stürzt womöglich ab (so verstarb etwa John F. Kennedy Jr., der Sohn des Präsidenten JFK).
Nein, der Mensch, diese bei Tag und bei Nacht rechnende Vorhersagemaschine, ist nicht für Stille geschaffen, nicht für die akustische Stille, und auch nicht für die Stille im übertragenen Sinn.
Unsere Vorhersagen brauchen Daten, aus denen wir auf die Lage und zukünftige Entwicklungen schließen. Wir lesen Bücher und lernen Geschichte, damit wir im großen Lärm der Zeiten die Melodien heraushören.
Ein weiser Mensch ist einer, der aus seiner Erfahrung richtig vorhersagen kann, wie die heute gehörten Melodien morgen weitergehen.
Ein kluger Mensch ist einer, der rechtzeitig mitzupfeifen weiß.
Wie sollen wir aber weise und klug sein, wenn wir nichts hören?
Vollständige Stille, das macht doch viele sehr wichtige Vorhersagen unmöglich!
Vollständige Stille macht dem Menschen aus gutem Grunde böse Angst.
Gefahren nicht vorhersagen zu können, das ist selbst eine gefährliche Situation. Nicht nur Eltern wissen, dass wenn es komplett still ist, etwas nicht stimmt – wir erwarten das »zufriedene Grundgemurmel«, auch bei Einzelkindern. Zu viel Stille erinnert uns an die berüchtigte »Stille vor dem Sturm« – und so leidet unser Geist heute am andauernden Alarmzustand.
Unser Gehirn meldet uns richtigerweise, dass vollständige Stille eine Gefahr ist – und diese Meldungen werden allmählich dringender, solange bis unser Geist durchdreht und sich via Halluzination einfach Sachen ausdenkt, damit wieder etwas da ist, das er »hören« kann.
Was tun? Wie sollen wir dieser rätselhaften Stille heute begegnen? Ich schlage vor, dass wir die Stille zunächst weniger rätselhaft werden lassen, indem wir sie verstehen und erklären, indem wir sorgfältig auf die Stille hören.